Hammelfleisch und Coca-Cola

■ Ein Gespräch mit Mohamed Choukri über Armut, Fundamentalismus, Moderne und seinen neuen Roman

taz: Sie gehören zu den wenigen marokkanischen Schriftstellern, die das soziale Elend Ihres Landes beschreiben. Die Welt Ihrer Bücher ist die der Trinker, Huren und Tagelöhner. Was fasziniert Sie so am Milieu der sozial Deklassierten?

Choukri: Ich schreibe über diese Klasse, weil ich selbst eines ihrer Produkte bin. Sie ist mir näher als die bürgerlichen Familien, zu deren Festen ich mittlerweile eingeladen werde. Meine Welt ist die der Huren und Diebe. Ich bin auch eine Hure, nicht weil ich meinen Arsch hinhalte, sondern weil ich als kleiner Junge von meinem Vater und der Gesellschaft wie ein Objekt mißbraucht wurde. Was ich beschreibe, ist die Armut und das Elend, das ich am eigenen Leib erfahren habe. Ich gebe Ihnen nur ein Beispiel, das lange Zeit für meine Lebenssituation und die vieler anderer bezeichnend war. Eines Morgens kam ich auf der Suche nach einem Frühstück in eine Gasse, wo ein Hund aus einer Mülltonne fraß. Daneben wartete eine Katze, denn der Hund war stärker und größer als sie. Ich verjagte den Hund und die Katze und suchte nach etwas Eßbarem. Derweil warteten Hund und Katze, bis ich, das Menschentier, fertig war. Als ich dann wegging, kam der Hund zum Fressen, und später würde ihm die Katze folgen.

Der erste Teil Ihrer Lebensgeschichte, „Das nackte Brot“, sorgte in der westlichen Welt, besonders in Europa und Amerika, für einige Verwirrung, was den Wissensstand über Marokko betraf.

Ja, die Armut und das Elend in meinen Büchern schockierte viele Menschen, die mit meinem Land 1001-Nacht-Klischees verbanden. Es ist das Elend, das ich vor der Unabhängigkeit Marokkos erlebte. Heute existiert es in dieser Form nicht mehr. Die Kinder betteln nicht mehr um Brot, sondern um Geld. Das Elend hat eine neue Dimension erreicht. Die Kinder der Armen schnüffeln bereits mit zehn Jahren.

Ihre Bücher sorgten nicht nur in Europa für Verwirrung, sondern auch in Ihrem Heimatland. Lange Zeit war „Das nackte Brot“ verboten. Nicht zuletzt, weil Sie Ihren Vater als schmarotzenden Nichtstuer und prügelnden Choleriker schilderten. Trotz dieses vehementen Angriffs auf die patriarchalische Struktur der islamischen Gesellschaft läßt man Sie heute wieder ungehindert publizieren.

So wie sich das Elend verändert, hat sich auch die gesellschaftliche Meinung gewandelt. Der Geist, der mein Buch 1983 verboten hat, herrscht heute nicht mehr. Damals unterstützte die Regierung den Fundamentalismus, weil sie Angst vor den Linken hatte. Heute ist es genau umgekehrt. Man stärkt die Linke, um den Fundamentalismus zu schwächen. Das ist wohl der Grund, daß der zweite Teil meiner Autobiographie, den ich 1992 geschrieben habe, nicht verboten wurde. Es existiert eine größere Toleranz, die Menschenrechte werden besser eingehalten und die Meinungsfreiheit respektiert. Das, was ich schreibe, könnte ich in Algerien oder Ägypten nicht schreiben. Dort werden Schriftsteller und Intellektuelle ermordet und sogar deren Kinder, wenn sie aus der Schule kommen, nur weil ihre Eltern Lehrer oder Ärzte sind.

Haben Sie keine Angst, daß in Marokko eine ähnliche Situation eintreten könnte, wie in den von Ihnen genannten Ländern?

Nein, ich glaube nicht, daß der Fundamentalismus in Marokko eine wichtige Rolle spielen oder zu terroristischen Mitteln greifen wird wie in anderen Ländern. Bislang hat man ihn noch sehr gut unter Kontrolle. Noch vor einigen Jahren konnten Schüler ihre Lehrer beschimpfen und erklären, diesen Dreck wollten sie nicht lernen, weder Naturwissenschaften noch Mathematik oder sonst was, nur Religion. Natürlich macht sich bei uns der Einfluß des Fundmentalismus in den Schulen, auf der Straße, überall, bemerkbar. Aber er hat nicht dieselbe Macht wie in Algerien oder Ägypten.

Was sind Ihrer Meinung nach die Ursachen des wachsenden Fundamentalismus in so vielen Ländern der arabischen Welt?

Der Fundamentalismus ist ähnlich wie der Rechtsradikalismus in Europa ein Ventil. Ein soziales Ventil für ein Volk, das keine Perspektiven hat. Für ein Volk ohne Arbeit, ohne Auskommen. Das Leben wird immer teurer, die sozialen Unterschiede größer, kein Wunder, daß sich die Ventile öffnen. Sie dienen einzig und allein zur kollektiven Abreaktion, denn die Fundamentalisten haben überhaupt keine Grundlagen, um soziale Veränderungen zu bewirken.

Denken Sie etwa, daß der wachsende Fundamentalismus und Nationalismus nur vorübergehende Zeiterscheinungen sind?

Ich glaube, daß der Fundamentalismus wie der Nationalismus zum Scheitern verurteilt sind. Sie verfügen zwar über Macht auf der Straße, nicht aber über die Fähigkeit zu regieren. Die Fundamentalisten in Marokko beispielsweise haben einige Anhänger in der Armee oder in wenigen Schlüsselpositionen von Industrie und Politik: Letztlich bleibt es doch eine verschwindend kleine Minderheit. Ein Sektierertum, wenn man so will, das den Dialog verweigert und unter sich bleiben will. Sie heiraten sogar nur ihresgleichen. Sie hoffen, eines Tages wie durch ein Wunder an die Macht zu kommen. Ob sie das tatsächlich tun, hängt von dem Durchhaltevermögen der Regierungen, den sozialen Bedingungen und der wirtschaftlichen Entwicklung der jeweiligen Staaten ab. Davon, ob die Regierungen andere Ventile schaffen können, die mehr Anreiz bieten als der Fundamentalismus. Gib einem Volk zu essen und zu trinken, gib ihm Hammelfleisch und Coca-Cola, dann gibt es keine Gefahr für extremistische Ideen.

Sie stehen neben Salman Rushdie und neun weiteren Autoren auch auf der berüchtigten Todesliste der Fundamentalisten.

Zu diesem Thema möchte ich mich nicht äußern. Die Lage ist sehr ernst. Viele Fundamentalisten bedrohen mich auf offener Straße. Ich will keine Probleme wegen zwei Journalisten. Die Behörden haben mich darauf aufmerksam gemacht und gewarnt. Ich bin ein Literat und damit basta. Ich will mich nicht unnötig exponieren. Das müssen Sie akzeptieren.

Glauben Sie, daß der Fundamentalismus eine Bedrohung für den Westen sein könnte, wie die Serben es ständig behaupten, um ihren Vernichtungskrieg zu rechtfertigen?

Der Fundamentalismus stellt keine Bedrohung für den Westen dar. Der Westen fördert ihn ja selber. Womit sollte der Islam den Westen beherrschen, mit dem Penis? Wer hat die Waffen? Wer stellt die Industrieprodukte her? Es herrschen neokolonialistische Verhältnisse. Früher haben sie unser Land besetzt, das ist heute nicht mehr nötig, aber die wirtschaftliche Abhängigkeit hat sich nicht geändert. Heute beherrschen sie uns aus der sicheren Ferne.

Zwischen „Das nackte Brot“, das in Italien gerade verfilmt wird, und der Fortsetzung Ihrer Lebensgeschichte, „Zeit der Fehler“, liegen über 20 Jahre. Was haben Sie in der Zwischenzeit eigentlich gemacht?

17 Jahre habe ich überhaupt nichts geschrieben. Was aber nicht heißt, daß ich nicht gearbeitet hätte. Ganz im Stile eines Analphabeten, der ich ja bis zu meinem 21. Lebensjahr war, bin ich es gewöhnt, im Geiste zu schreiben, bevor ich den Text aufs Papier bringe. „Das nackte Brot“ lag fast zehn Jahre in meiner Schublade, bis Tahar Ben Jelloun es ins Französische übersetzte und es weltweit bekannt wurde. Mir fiel es nach der langen Pause sehr schwer, das Gefühl für das Schreiben wiederzugewinnen. Mir erging es wie einem Boxer, der lange nicht trainiert hat und sich nun anstrengen muß, um zu seiner alten Form zurückzufinden. Außerdem dauerte es bei mir eine Zeitlang, bis ich mir sicher war, daß ich als Schriftsteller und nicht als Vagabund enden wollte.

„Zeit der Fehler“ ist wie „Das nackte Brot“ kein in sich geschlossener Roman, auch keine Autobiographie im klassischen Sinn. Das Buch setzt sich zusammen aus vielen, teilweise fragmentarischen Einzelgeschichten, die für sich alleine stehen könnten. Welchem Genre würden Sie Ihre Bücher zuordnen?

Wissen Sie, ich halte nicht viel von Regeln, die mir vorschreiben, wie ich einen Roman oder eine Kurzgeschichte zu strukturieren habe. Deshalb interessiert es mich auch nicht, welchem Genre „Zeit der Fehler“ oder „Das nackte Brot“ zuzuordnen sind. Ich schreibe über meine Erfahrungen, über meine Welt, über meine Klasse, aus der ich komme. Ich bin kein kosmopolitischer Schriftsteller, ich würde mich nicht einmal als marokkanischen Schriftsteller betrachten. Ich bin ein Schriftsteller aus Tanger, und meine Wurzeln liegen im Rif. Das ist weder rassistisch noch nationalistisch gemeint. Ich schreibe aus meiner Sichtweise für die ganze Menschheit. Und meine Sichtweise ist geprägt von Brüchen. Für mich gibt es keine Kontinuität, weder in der Geschichte noch in der Tradition. Deshalb auch dieser, wie Sie es bezeichnen, fragmentarische Charakter meiner Bücher.

Von welchen Brüchen sprechen Sie?

Fangen wir mit der Unabhängigkeit 1956 an, die ein vollkommen neues Lebensgefühl erzeugte und alle Gesellschaftsschichten erfaßte. Sie war vielleicht der größte Bruch mit der Vergangenheit. Endlich hatten wir ein Recht auf Bildung und durften lesen und schreiben lernen. Wäre die Unabhängigkeit nicht gewesen, wäre ich vielleicht als Drogenabhängiger oder Verbrecher geendet. Wir wurden wachgerüttelt und wollten unsere Armut abschütteln. Ich selber fälschte sogar mein Geburtsdatum, um an einer Schule angenommen zu werden, denn mit fast 21 Jahren war ich eigentlich schon zu alt dafür.

Plötzlich sind wir vom Kamel auf den Mercedes umgestiegen. Von einem Tag auf den anderen haben die Frauen ihre Burnusse und Haiks abgelegt und hochhackige Schuhe gekauft, in denen sie kaum laufen konnten. Wir haben die Mini- und die Maximode mitgemacht. Eine Entwicklung sollte sich aber langsam vollziehen und die Grundlagen des eigenen Landes nicht unbeachtet lassen. Wir aber haben ein Wechselbad nach dem anderen durchgemacht. Als in den Sechzigern die Hippies kamen, erlebten wir wieder einen Bruch, und sogar einen doppelten, wenn man so will. Die Hippies entdeckten unsere traditionelle Kleidung. Sie suchten nach einer Tradition, die wir um des Fortschritts willen ablegen zu müssen meinten. Das hat uns erneut verunsichert, da wir uns stets am Westen ausgerichtet hatten und die Bedürfnisse der Hippies nun gar nicht einordnen konnten. Unsere erst 35jährige Unabhängigkeit besteht aus einer Vielzahl von Sprüngen, genau wie unsere Geschichte seit 1492. Immer nur fremde Herren: Araber, Spanier, Franzosen und fremde Kulturen.

Ähnlich wie bei „Das nackte Brot“ ist auch in Ihrem neuen Buch das Verhältnis zu Vater und Mutter ein zentrales Thema. Besitzt das repressive Familiensystem, das Sie zeichnen, im heutigen Marokko noch Gültigkeit?

Meine Mutter war ein Opfer innerhalb der Familie. Ich habe meinen Vater nie so hart arbeiten gesehen wie sie. Sie wurde wie ein

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Gegenstand mißbraucht. Sie mußte schuften, während er sich in den Cafés rumtrieb und über seine Heldentaten im Krieg, im spanischen Bürgerkrieg, schwadronierte. Dabei war alles Lüge, Angeberei. Diese patriarchalischen Machtstrukturen sind in Marokko noch sehr lebendig. Die Frauen arbeiten immer noch härter als die Männer. Und nicht nur die Frauen, sondern auch die Kinder. Die Männer zeugen Kinder, um sich ihre Rente zu sichern. Die einen schicken sie zum Töten, die anderen zum Betteln. Kinder sind in manchen Gesellschaftskreisen wirtschaftliche Objekte. Ich meine Kreise, in denen man an einem Tag zu essen hat und am nächsten wieder nichts. Wirtschaftliche Not und Ignoranz machen unmenschlich.

Von Ihrem Vater wurde die ganze Familie regelmäßig verprügelt. Im Jähzorn hat er sogar einen Ihrer Brüder getötet. Haben Sie ihm je verziehen?

Ja. Ich habe meinem Vater verziehen. Der Haß, den ich für ihn empfand, war ein kindlicher Haß. Heute weiß ich, daß er selbst kein angenehmes Leben gehabt hatte. Er war Soldat, ist desertiert und hat zwei Jahre im Gefängnis verbracht. Er gehörte der entrechteten Klasse an. Armut, Gewalt auch in seiner Kindheit. Letzten Endes war er kein Rivale, an dem ich mich messen konnte.

Ich habe nie erlebt, daß er mir oder einem meiner Geschwister zugelächelt hätte. Sobald er in der Nähe war, fühlten wir uns terrorisiert. Deshalb habe ich lieber auf der Straße geschlafen als zu Hause.

Das klingt ja so, als hätten Sie mit ihren beiden Büchern Ihre Kindheit relativ erfolgreich aufgearbeitet.

Durch meine Bücher habe ich mir sicherlich eine Psychoanalyse erspart.

Bleibt da trotzdem nicht ein bitteres Gefühl von Verlust?

Natürlich, denn ich bekam nie das zurück, was ich durch meine Familie verloren habe. Sämtliche meiner Erwartungen als Kind gegenüber den Eltern wurden enttäuscht, nicht selten bestraft. Ich mußte zusehen, wie ich selber fertig wurde. Auch Liebe gab es nicht. Und wenn man Familiengefühle entwickeln will, muß man dazu erzogen worden sein. Man muß eine Familie gehabt und Nähe erlebt haben. Die Nähe zur Familie ist gleichzeitig eine Nähe zur Gesellschaft. Das ist es, was ich mit dem Schreiben bezwecke. Und ich schreibe über die Not einer Klasse, die mich dafür haßt, daß ich sie verteidige.

Ihr ganzes Leben war gekennzeichnet von Ungerechtigkeiten, Armut und Elend. Wie übersteht man das alles?

Mein Leben war Überlebenskampf und Abenteuer zugleich. Ich mußte sehr viele Opfer bringen. War stets arm an Geld, aber reich an Einsichten und Gedanken. Ich assimilierte viele mir ganz fremde Kulturen, was einerseits einen hohen Grad von Entfremdung bedeutete, andererseits neue interessante Welten und Horizonte auftat. Heute leide ich gelegentlich an starken nervösen Depressionen. Zweimal bin ich in psychiatrische Anstalten eingewiesen worden. Viele Menschen haben diese Zerrissenheit, das Gefühl, nirgendwohin zu gehören, nicht verkraftet. Ich genieße heute mein Leben und verdiene durch meine Literatur, gemessen an marokkanischen Verhältnissen, relativ gut. Ich habe es geschafft zu überleben, ohne daß mich die Politik oder andere Autoritäten wie eine Laus zerquetschen.

Trotzdem kann man in Ihrem Buch keine sehr positive Sicht der Welt erkennen.

Da mögen Sie recht haben. Aber die Existenz als solche ist nun mal traurig. Und nur Narren können wahres Glück empfinden, Ignoranten, die kein Bewußtsein haben. Wer die Tiefe des Lebens begreift, wird sehen, daß der Mensch in Trauer geboren wird und in Trauer stirbt. Für mich ist das Leben traurig, doch jeder versucht auf seine Weise, das Häßliche zu verschönern. Man möchte die Angst lindern, die man in sich trägt. Der Mensch ist ein ängstliches Wesen, zur Angst verurteilt. Wie Heidegger gesagt hat: Das Ziel ist der Tod. Doch zwischen Geburt und Tod gibt es ein Leben. Und das, so Schopenhauer, wird nicht gelebt, sondern ertragen.

Interview: Alfred Hackensberger