Feminismus nur für Frauen – ein Luxus!

Die US-amerikanische Wissenschaftstheoretikerin und Philosophin Sandra Harding hat ein neues Modell emanzipatorischer Wissenschaft entwickelt / Die „Disloyalität gegenüber der Zivilisation wagen“  ■ Von Ulrike Baureithel

„Die westliche Wissenschaft ist eine naive Ethnowissenschaft“: Mit dieser provokativen Feststellung endet ein in der letzten Nummer der Philosophin erschienener Essay der amerikanischen Wissenschaftstheoretikerin und Philosophin Sandra Harding. Sie umreißt damit eine Topographie des Wissens, die sich auf die westliche Zivilisation der letzten Jahrhunderte unter weißer Vorherrschaft mit vorwiegend männlichen Vertretern privilegierter Klassen beschränkt.

Ganz so polemisch fällt Hardings Inspektion der westlichen Wissenschaftskultur in ihrer neuen Monographie „Das Geschlecht des Wissens“ nicht aus. Es geht ihr neben der Abrechnung mit den Standards konventioneller Wissenschaft vor allem um eine Verständigung unterschiedlicher Ansätze feministischer Wissenschaft einerseits und andererseits um die gegenseitige Durchdringung feministischer Theorien mit anderen emanzipatorischen Diskursen in der ersten und dritten Welt. So notwendig die Forschung von Frauen für Frauen auch sei, meint die in Delaware lehrende Professorin, so ungenügend sei der politische Radius eines solchen Programms, weil „ein Feminismus ,nur‘ für Frauen“ ein Luxus ist, den Feministinnen sich nicht leisten können und sich niemals gewünscht haben. „Schließlich wollen wir die Welt verändern – und nicht nur die Frauen.“

Aber was erwarten Frauen von den Wissenschaften? Und was haben die Wissenschaften vom Feminismus zu lernen? Im ersten Teil des Buches rekapituliert Harding Daten und Denkfiguren, die uns aus ihrer „feministischen Wissenschaftstheorie“ (Argument 1990) weitgehend bekannt sind: Frauen als Wissenschaftlerinnen sind im androzentrisch geprägten Denken ein Widerspruch in sich; wo sie auftauchen, gelten sie als Ausnahmefrauen, ihre Beiträge zur Wissenschaft werden marginalisiert und ihnen werden nur alle erdenklichen Hürden in den Weg gelegt, um ihnen den Zugang zu den Wissenschaften (insbesondere den Natur- und Technikwissenschaften) zu erschweren. Statt die „Benachteiligung“ der Frauen zu beklagen, schlägt Harding deshalb vor, von einem „Bevorteilungssystem“ für ein, nämlich das männliche Geschlecht zu sprechen.

Die Frage nach den Frauen in der Wissenschaft zieht jedoch eine weitere nach sich: Wenn nämlich Frauen als Subjekt der Forschung ausgeschlossen bleiben, und wenn sie als Objekt der Forschung nur verzerrt wahrgenommen werden, wie will die Institution dann noch das sie fundierende Prinzip Universalität, Rationalität und Wertfreiheit der Forschung behaupten? Und kann das bis heute unangefochtene wissenschaftliche Leitmodell, die Physik, diese Rolle tatsächlich noch beanspruchen, sollte sich herausstellen, daß ihr Selbstbild „magisch“ und das von ihr produzierte Bild von der Welt „unangemessen“ ist? Was zunächst „nur“ als androzentrisches Vorurteil der Wissenschaft gegenüber Frauen daherkommt (also durch gerechtere Partizipationschancen lösbar wäre), verstärkt bei genauerer Hinsicht unsere Skepsis gegenüber der Art und Weise, wie Wissenschaft ihre Erkenntnisse produziert. Wir können uns moralisch darüber empören, daß Frauen beispielsweise aus der Entwicklung der Gen- und Repro-Medizin ausgeschlossen bleiben; würde sie aber unter weiblicher Beteiligung anders aussehen? Aus dem politischen Gleichstellungsproblem wird unter diesen Voraussetzungen ein wissenschaftlich-erkenntnistheoretisches, bei dem der Feminismus den Nachweis zu führen hätte, andere Maßstäbe für Erkenntnis in die Forschung hineinzutragen. An die Stelle einer feministischen Kritik an „schlechter Wissenschaft“ träte dann die Kritik am männlichen Wissenschaftsprojekt insgesamt.

Im Unterschied zu früheren Publikationen operiert Harding auffallend nachdrücklich für eine feministische Standpunkttheorie auf der Basis von Differenz. Dabei seien die unterschiedlichen Lebensbedingungen von Frauen als Ausgangspunkt der Forschung und die Rolle der Wissenschaftlerinnen als „integrierte Außenseiterinnen“ wichtige Momente, das von Harding eingeforderte Konzept „strenger Objektivität“ einzulösen. Ohne es explizit zu diskutieren und mit weitgehenden „Versöhnungsangeboten“ setzt sich die Wissenschaftstheoretikerin von der modischen Kritik Judith Butlers am „feministischen Fundamentalismus“ und seiner Identitätspolitik ab. Obwohl auch sie die Neigung der feministischen Standpunkttheorie, die Geschlechterdifferenz zu ontologisieren, einräumt und weibliche Erfahrung keineswegs als hinreichende Voraussetzung für feministische Forschung erklärt, hält Harding daran fest, daß „Differenz“, sowohl zwischen Männern und Frauen als auch zwischen Frauen unterschiedlicher Gruppen, erkenntnisstiftend ist: „Feminismus existiert trotz und wegen unserer Differenz.“

Damit konzediert sie die historischen Unterschiede zwischen den Frauen, aber auch zwischen den Angehörigen unterschiedlicher Ethnien und Klassen; der Feminismus dürfe nicht weiterhin auf seiner Exklusivität bestehen. Vielmehr könne er sich erst in Zusammenspiel mit den Stimmen anderer Anderer voll entfalten, ohne allerdings seine Bewertungskriterien zu relativieren, wie dies von postmoderner Seite vorgeschlagen werde.

Im letzten und spannendsten Teil des Buches fragt Harding deshalb nach den Möglichkeiten, wie wir uns – nach der Dekonstruktion des „allgemeinen Mannes“ und der darauf folgenden Unterminierung der „allgemeinen Frau“ – „selbst als Andere neu definieren können“. Wenn heutzutage die Wissenschaft auf die globale Waagschale gelegt und nach ihren Auswirkungen auf die Lebensbedingungen nichtwestlicher Länder und Völker gefragt würde, dann würde die hehre Legende vom wissenschaftlichen Fortschritt sehr schnell unter den Trümmern einer Gewaltgeschichte verschwinden.

In einem hochinteressanten Literaturbericht über hierzulande kaum bekannte Studien zeigt Harding, wie die „Überentwicklung“ der westlichen Forschung einherging mit der „De-Entwicklung“ zum Beispiel der afrikanischen Hochkulturen; Wissenschaft war und ist immer ein heiß umkämpftes Terrain kultureller Identität. Und ebenso wie die „fremde“ Sichtweise der Angehörigen anderer Rassen und Klassen – unter der Maßgabe, daß die „allgemeine“ Frau abgedankt hat –, ist nach Harding auch die lesbische Perspektive geeignet, die feministische Standpunkttheorie zu objektivieren. Nicht nur, aber nicht zuletzt weil die eindeutige Bezugnahme auf Frauen das herkömmliche Verhältnis der Wissenschaft zur Natur als Gewaltverhältnis in Frage stellt.

Wenn wir anerkennen, daß wir „als Frauen“ keine „allgemeinen weiblichen Erfahrungen“ mehr generieren können und trotzdem gültige Aussagen machen wollen, wie sieht dann das neue Subjekt von Erkenntnis und Geschichte aus und wie steht es um das Verhältnis von Erfahrung und Erkenntnis?

In einer beim deutschen Diskussionsstand etwas merkwürdig anmutenden Debatte um die Erkenntnisansprüche „feministischer Männer“ vollzieht Harding eine markante Abkehr von der Vorstellung, die Frauen das Privileg auf feministische Erkenntnis einräumt. Das mag unter erkenntnistheoretischem Aspekt durchaus sinnvoll sein. Unter wissenschaftspolitischen Erwägungen allerdings ist diese Forderung problematisch, weil es ja auch in der feministischen Forschung um Macht, das heißt um den Zugang zu Ressourcen geht und gehen muß; es wäre in der Wissenschaftsgeschichte nicht das erste Mal, daß Männer im Rahmen eines „Paradigmenwechsels“ Frauen von ihren Positionen verdrängten.

Derart praktische Einwände mindern indessen nicht den Wert dieses systematisch erarbeiteten Modells einer interessegeleiteten und emanzipatorischen Wissenschaft, die die Ansprüche nicht nur von Frauen, sondern auch anderer unterdrückter Gesellschaftsgruppen integrieren will. Um hier innovative Strategien zu entwickeln, müssen wir „die Disloyalität gegenüber der Zivilisation wagen“.

Sandra Harding: „Das Geschlecht des Wissens. Frauen denken die Wissenschaft neu“. 359 Seiten, Campus Verlag, FfM/New York 1994, 49,80 DM