„Dušan war vorher absolut gesund“

Die Belgrader Unversitätsklinik beherbergt eine von insgesamt drei Kinderkrebsstationen in Restjugoslawien  ■ Von Peter Dammann

Als Violeta in die Belgrader Universitätsklinik kam, war sie dünn wie ein Strohhalm. Sie war verschreckt. Niemand durfte ihrem Gitterbett zu nah kommen – sie fauchte, schrie, weinte. Eileiterkrebs war die Diagnose, eine Operation, dann mehrere Chemotherapien. Violeta ist jetzt zwölf Monate hier. Laufen hat sie in ihrem Gitterbett gelernt. Durch große Glasfenster kann sie die ganze Station beobachten. Aber Violeta erzählt nicht, was sie gesehen hat, sie spricht nicht – nicht albanisch (sie kommt aus dem Kosovo) und auch nicht serbo-kroatisch. Violeta ist 18 Monate alt.

Violetas Eltern haben nicht genug Geld, um sie regelmäßig zu besuchen. Eine Busfahrkarte von Priština, der Hauptstadt des Kosovo, nach Belgrad kostet einen Monatslohn. Wenn die Mutter einmal da ist, dann erkennt Violeta sie nicht. Nicht einmal ein Lächeln hat sie für ihre Mutter übrig – „Violeta lacht nie“, sagen die Krankenschwestern. Im Nebenraum kann Violeta den fünfjährigen Danjiel sehen. Er trägt einen weißen Schlafanzug mit einem farbigen Bild auf der Brust: Donald Duck und Micky Maus schütteln sich die Hand. Danjiel kommt aus einem Dorf 250 Kilometer von Belgrad entfernt. „Ich will nach Hause“, sagt er leise. „Ich will Zwiebeln stechen und Paprika und Kartoffeln pflanzen.“ Danjiel hat einen Tumor unter den Lymphknoten am Hals. Er soll heute operiert werden, deshalb darf er nicht mit den anderen Kinder frühstücken.

Auf der anderen Seite des Flurs, in einer der vier „Glasboxen“ – dreieinhalb Quadratmeter große Räume, in denen Mütter bei ihren krebskranken Kindern leben – liegt der drei Jahre und zwei Monate alte Dušan. „Er war vorher absolut gesund“, erzählt die junge Mutter. „Nie hatte er auch nur eine Erkältung. Immer war er lustig und lebhaft.“ In den Weihnachtstagen des letzten Jahres bekam Dušan plötzlich Bauchschmerzen, später starke Krämpfe. Die Ärzte in seiner Heimatstadt Niš konnten nichts finden. Sie weigerten sich, das Kind in die Belgrader Universitätsklinik zu überweisen, die über eine der drei Stationen für Kinder- Onokologie und -Hämatologie in Restjugoslawien verfügt.

Zwei Monate später fuhr die Mutter mit ihrem Sohn trotzdem nach Belgrad. Dušan wurde sofort operiert – aber wahrscheinlich zu spät. Der Tumor konnte nicht mehr entfernt werden – er war zu groß. Die letzten vier Tage hatte Dušan Fieber und Atembeschwerden. Jetzt geht es ihm besser, er kann wieder essen. „Die Ärzte sagen, daß die Entwicklung super ist“, strahlt seine Mutter zuversichtlich. Die Krankenschwestern glauben, daß Dušan noch zwei bis sechs Monate leben wird – und hoffen auf ein Wunder.

Die Mütter, die mit ihren Kindern in den „Glasboxen“ leben, dürfen den Glaskasten nur für den Gang zur Toilette und ins Badezimmer verlassen. Es ist nicht gestattet, Lebensmittel zu lagern, weil die überall herumkriechenden Küchenschaben alles anfressen. Deshalb muß jeden Tag ein anderes Familienmitglied ihnen Essen bringen. Die „Glasboxen“ wurden eingerichtet, nachdem im letzten Winter auf der völlig überfüllten Station Gelbsucht ausgebrochen war. Damals schliefen die Mütter noch mit ihren kranken Kindern in einem Bett, so daß nicht nur Kinder, sondern auch Mütter sich ansteckten. Die Schwestern glauben, daß die Gelbsucht verbreitet wurde, weil sie keine Gummihandschuhe beim Blutabnehmen tragen konnten – es gab keine.

Seitdem die Vereinten Nationen 1992 das Embargo gegen Rest- Jugoslawien verhängt haben, fehlen nicht nur Gummihandschuhe. Die Knochenmarkpunktierung im Oberschenkel der zehnjährigen Dragana wird in einem wenig sterilen Behandlungsraum mit einer alten Spritze und einer stumpfen Nadel durchgeführt. Vier Schwestern drücken das ängstliche Mädchen auf die Behandlungsliege, als Dr. Ivanovski in den Knochen sticht. Swetlanas wahnsinnige Schmerzensschreie gellen durch den Flur der Station. Der Arzt: „Die UNO soll uns leben lassen. Sie soll uns nicht in den Fluß schmeißen und anschließend nachfragen, ob es uns gut geht.“

Der leitende Arzt der Abteilung, der 60jährige Prof. Predrag Cvetković, sagt, daß die Arbeitsbedingungen noch nie so schlecht gewesen seien. Im letzten Jahr wurden auf seiner Station 879 Kinder mit Tumoren, Drüsenerkrankungen, Leukämie oder anderen Bluterkrankungen stationär behandelt. Zusätzlich mußten 15 bis 20 Kinder pro Tag in der „Tagesklinik“ untersucht und behandelt werden. Durch den Zusammenbruch der medizinischen Versorgung in den Kriegsgebieten hatten sie 20 Prozent mehr Patienten. Gleichzeitig gingen zwei Fachärzte der Abteilung nach Westeuropa und Afrika, sie wollten mehr verdienen – das Gehalt eines Arztes beträgt 100 Mark im Monat – und nicht länger unter unzumutbaren medizinischen Bedingungen arbeiten.

Es fehlen unter anderem folgende lebensnotwendigen Medikamente: – Holoxan (ifosfamide) à 1 gr., amp., No XXX

– Mustgargen, à 10 mg

– Rubidomycin, 20 mg.

Prof. Cvetković schätzt, daß sich die Heilungsprozesse bei den Kindern in den Kriegsjahren um 30 Prozent verschlechtert haben. Elf Kinder sind im letzten Jahr auf der Station gestorben – fünf oder sechs hätten sie retten können, wenn ausreichend Medikamente vorhanden gewesen wären. Doch während Unicef der Belgrader Klinik im letzten Jahr noch die notwendigen Medikamente zur Verfügung stellen konnte, bekommt es nach der Kürzung der Etats der Hilfsorganisation nun keine mehr.

Das UN-Embargo gilt zwar nicht für Medikamente, die importierten Arzneimittel sind für die meisten Patienten jedoch unbezahlbar geworden. So kostet zum Beispiel die Behandlung eines Kindes mit Zyklosporin – das wichtig ist zur Stärkung der Abwehrkräfte – in einer Woche 1.500 Mark, der Durchschnittslohn beträgt aber nur 50 Mark. „Eltern verkaufen ihre letzte Kuh, um ihr Kind zu retten – ihre fünf anderen Kinder können dann keine Milch mehr trinken. Das sind Dramen, die sich hier jeden Tag abspielen“, berichtet Prof. Cvetković. In diesem Krankenhaus würden sie keinen Milliliter der Medikamente wegkippen; immer überlegen sie, wie sie die letzte Ampulle auf die Kinder aufteilen könnten.

Kaffeeduft dringt in das Büro. Die Oberschwester unterbricht den Professor, der Kaffee wird im Aufenthaltsraum der Schwestern getrunken. Drei der Frauen arbeiten schon 20 Jahre hier. Hunderte von Kindern haben sie sterben sehen. Um die Arbeit durchzuhalten, gehen sie keine intensiven emotionalen Beziehungen mit den kranken Kindern ein, sondern konzentrieren sich auf die medizinische Versorgung. Bis zu 200 Infusionen und Bluttransfusionen müssen die Schwestern an einem Tag durchführen, wenn die Station voll belegt ist.

50 Mark im Monat verdienen sie – das Existenzminimum für eine vierköpfige Familie liegt bei 400. Im Aufenthaltsraum hängt ein Angebot der Gewerkschaft für ein Fortbildungswochenende, über das die Schwestern lachen: Die Fortbildung kostet einen Monatslohn. „Ja, früher war alles besser“, schwärmt die blonde Zorica. Vor dem Krieg hat sie ihr Mann manchmal nach der Nachtschicht abgeholt. „Dann sind wir spontan nach Triest zum Schuhe kaufen gefahren.“ Damals habe die Gewerkschaft auch Siebentagereisen nach Spanien für einen halben Monatslohn angeboten. Früher hatte die Oberschwester in ihrem Schrebergarten am Stadtrand Blumen. „Wenn ich meine Kinder und Enkelkinder besucht habe, dann brachte ich Blumen mit.“ Jetzt hat sie ihre Blumen herausgerissen und Gemüse und Obst angebaut.

Nach der Kaffeepause im Aufenthaltsraum gehen zwei Krankenschwestern den sechsjährigen Marko besuchen. Ihm wurde eine Niere herausgenommen. Es war seine zweite Operation. Vor vier Monaten war er das erste Mal im Krankenhaus. Er hatte beim Fußballspielen Hüftgelenkschmerzen bekommen. Die Ärzte stellten einen bösartigen Tumor fest, Marko wurde operiert. Es blieben Metastasen zurück, die eine Niere zerstörten. Noch kahlköpfig von seinen Chemotherapien liegt Marko – mit den Armen festgebunden, damit er nicht die Infusionsnadeln herausreißt – im Bett. Neben seinem Kopf steht ein blauer Spielzeugrennwagen, auf einer Ablage neben dem Bett liegt sein kleines Computerspiel. Auf Knopfdruck schwingt sich eine Frau an einer Liane von Baum zu Baum. Dies, sein liebstes Spielzeug, hat er mitgenommen, damit die anderen Kinder es nicht kaputt machen; darauf hat er bestanden. Marko hat 38,7 Fieber. Es geht ihm schlecht, seine Überlebenschancen sind gering.

Zurück in der Station. Am Gitterbett von Violeta steht ihre Mutter. Nach der teuren Busfahrt hatte sie nur noch Geld für eine Tüte Salzstangen übrig, die ihr Kind genüßlich mampft. Violeta erlaubt der Mutter, sie auf den Arm zu nehmen. Das ist das erste Wunder. Als die Mutter beginnt, ihr Gesicht an dem von Violeta zu reiben und sie schließlich sogar küßt, da lächelt Violeta zum ersten Mal seit zwölf Monaten.