Ein Licht in der Fernsehdüsternis

TV-Kritiker umarmen das Fernsehen (Teil 2): „Ehen vor Gericht“ (ZDF)  ■ Von Tilman Baumgärtel

Ganz gegen die Realitäten des Programmangebots beschäftigt sich die Fernsehkritik stets mit dem Neuen. Dabei lebt das Fernsehen von seiner Serialität. Die besten Formate sind selten die neuesten. Weshalb sich die taz-Kritiker in dieser Serie ausschließlich mit liebgewonnenen Altlasten des aktuellen Programmangebots auseinandersetzen. Wiedersehen macht Freude.

Fast alle erfolgreichen Sendeformate der öffentlich-rechtlichen Anstalten haben mittlerweile bei den Kommerzsendern ihr verschärftes, brutalisiertes Gegenstück gefunden: die harmlosen Streiche, mit denen Chris Howland einst deutsche Spießbürger neckte, sind zu dem brutalen Splatter- Amüsement von „Vorsicht Kamera“ auf Sat.1 degeneriert, das wohl nur durch Zufall noch niemand das Leben gekostet hat. Aus den fröhlichen „Spielen ohne Grenzen“ der 70er Jahre wurde die gnadenlose RTL-Kandidatentortur „Die 100.000-Mark-Show“, deren sadistische Hochleistungsspiele an Stephen Kings „Running Man“ erinnern. Und aus dem Law- and-order-Programm „Aktenzeichen XY“ mit Teleblockwart Ede Zimmermann gingen die voyeuristischen Reality Shows auf den Privatkanälen hervor.

Bloß ein Genre ist das alleinige Metier der Öffentlich-Rechtlichen, namentlich des ZDF, geblieben: Sendungen wie „Wie würden Sie entscheiden?“ und besonders „Ehen vor Gericht“, also bürgerliche Trauerspiele, die unter dem Deckmantel des semidokumentarischen TV-Ratgebers daherkommen. Der Ernst und die Behutsamkeit, mit der sich diese Sendungen den großen Dramen des täglichen Lebens (Untreue, Scheidung, Betrug, permanente Lärmbelästigung durch die Nachbarn) annehmen, muß den privaten Krawallsendern schon ob ihres Hangs zum Spektakel für immer verwehrt bleiben. Die Scheidungsshow mit Hugo Egon Balder, die RTL mal geplant hat, ist aus gutem Grund nie ins Programm gekommen.

Besonders „Ehen vor Gericht“ verpassen wir nur ungern. Denn auch, wenn die Privaten demnächst in Super-Zeitlupe zeigen würden, wie Ehefrauenherzen brechen und betrogene Gatten den Glauben an die heilige Hetero-Institution verlieren: nie würden sie den betulich menschelnden Charme von „Ehen vor Gericht“ erreichen, das nebenbei auch noch den Vorteil hat, für viele Fernsehzuschauer wahrscheinlich tatsächlich Lebenshilfe zu bieten.

Die hölzernen Dialoge, die tapsigen Provinztheater-Schauspieler, die gekünstelte Wirklichkeitsnähe der Spielszenen, all das gemahnt an den Verfremdungseffekt des epischen Theaters, der auch „Aktenzeichen XY“ in seinen besten Momenten prägt. Gerade diese steife Leblosigkeit erlaubt es den Zuschauern (ähnlich wie in der „Lindenstraße“), vom individuellen Schicksal auf das gesamtgesellschaftliche Phänomen zu schließen.

„Ehen vor Gericht“ macht – wie Brecht es forderte – die Realität sichtbar, indem es sie verzerrt. Denn wenn dieses TV-Kammerspiel Kabale und Liebe aus dem richtigen Leben schildert, geschieht es nie, um unsere Schaulust zu befriedigen. Nein, Belehrung und Anleitung zur Reflektion soll es bieten. Darum unterbricht Moderator Ulrich Beer immer wieder die Handlung, um – ähnlich dem Chor der griechischen Tragödie – mit telegenen Gastexperten die fatalen Geschehnisse zu bekakeln.

Wenn dann zum Schluß der – immer souveräne und routinierte – Scheidungsrichter als Deus ex machina sein weises Urteil fällt, sind wir mit den juristischen Hintergründen der verpfuschten Ehe längst vertraut. Laut Bürgerlichem Gesetzbuch, Paragraph Soundsoviel, bekommt eineR das Sorgerecht, eineR die Unterhaltspflicht aufgebrummt, und die Wohnung darf sie behalten – ein salomonisches Urteil und ein Glück, daß die Kinder nicht ins Heim müssen.

So dient „Ehen vor Gericht“ vor allem als rechtliches Lexikon. Doch anders als bei „Wir würden Sie entscheiden?“, das oft wegen seines deutschen Hanges zur Pedanterie nervt, geht es bei „Ehen vor Gericht“ nie darum, den Schuldigen zu finden und für seine Verfehlungen abzustrafen. In der Scheidungsshow wird tatsächlich nach Gerechtigkeit gesucht, die den beiden Menschen, die nicht mehr miteinander auskommen, helfen soll, ohne einander weiterzuleben. Das macht „Ehen vor Gericht“ zu einem Lichtlein der Menschlichkeit in einer zunehmend dunkler werdenden Fernsehzeit.

Die Reihe wird fortgesetzt.