„Heiliger Krieg“ jeder gegen jeden

In Algerien metzeln Militärs Islamisten und Oppositionelle nieder, Islamisten morden Oppositionelle, Militärs und andere Islamisten / Der angekündigte „nationale Dialog“ fand nicht statt  ■ Von Khalil Abied

Amman (taz) – Die Leichen von Abdelqader Hattab, seiner Frau und neun weiteren Mitgliedern der „Bewaffneten Islamischen Gruppe“ (GIA) lagen in einer Grotte bei Dschebal Bouzega in der Nähe von Algier. Mitarbeiter der algerischen „Sicherheitsdienste“ erklärten am Sonntag, sie hätten die sterblichen Überreste der Islamisten gefunden, nachdem ihnen ein festgenommener Islamist einen Tip gegeben habe. Nach ihrer Darstellung sollen die Täter zu einer mit der GIA rivalisierenden „Bewegung des Islamischen Staates“ gehören. Wer tatsächlich hinter dem Mord an dem bekannten GIA-Führer und seinen Mitstreitern steckt, wird wahrscheinlich nie geklärt werden. Mindestens ebenso wahrscheinlich wie die amtliche Version ist die Variante der GIA, die staatliche Stellen für den Mord verantwortlich macht. Nach Berichten von Menschenrechtsorganisationen halten sich algerische Militärs und Polizisten bei der Verfolgung von Islamisten schon lange nicht mehr an Recht und Gesetz. Hunderte von echten und mutmaßlichen Islamisten samt ihren Angehörigen gelten als verschwunden. In Algerien wird gemunkelt, sie seien Opfer von Massenhinrichtungen geworden.

Allerdings gehen in dem nordafrikanischen Land auch zunehmend rivalisierende Islamisten aufeinander los. Die deutlichste Konfliktlinie verläuft zwischen der GIA und der „Islamischen Heilsfront“ (FIS) – jener Partei, die im Januar 1992 wahrscheinlich die ersten freien Wahlen gewonnen hätte, wären diese nicht kurzerhand abgebrochen worden. Während die FIS-Führung um Kontakte zu dem algerischen Regime bemüht ist, lehnt die Mehrheit der GIA jegliche Aussöhnung mit den „ungläubigen“ Machthabern ab. Nur der „Dschihad al-Muqaddas“, der Heilige Krieg, könne die Herrschaft Gottes auf Erden errichten, heißt es in Pamphleten der „Afghanis“, wie GIA-Aktivisten auch genannt werden. Die Bezeichnung hat ihnen ihre Tätigkeit in den achtziger Jahren als vom CIA ausgebildete Freikorps gegen die kommunistischen Herrscher Afghanistans eingebracht. Sie sollen für die meisten der seit Dezember vergangenen Jahres in Algerien stattfindenden Anschläge auf Ausländer verantwortlich sein. In den klandestin verteilten Publikationen der GIA wird die FIS als zu moderat kritisiert. Die inhaftierten FIS-Führer Abbas Madani und Ali Belhadsch spielten in der islamischen Bewegung keine führende Rolle mehr, heißt es darin. Vor wenigen Wochen kündigte die GIA an, ihr „Madschlis asch-Schura“, die Ratsversammlung, werde demnächst zusammentreten, um eine provisorische islamische Regierung zu bilden. Die FIS kritisiert besonders die Mordanschläge der GIA als Verletzung islamischer Gesetze. Zwar hält auch die FIS Attentate für prinzipiell legitim, jedoch dürften sie sich in der gegenwärtigen Situation nur gegen „militärische Ziele“ richten.

Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen sollen dem anhaltenden blutigen Gemetzel seit Anfang 1992 über 3.000 Menschen zum Opfer gefallen sein. In französischen Medien ist gar von 9.000 die Rede. Und die Anzahl der täglich begangenen Morde steigt an. So liefen Anfang Juli in der Umgebung von Badschaya über 120 algerische Soldaten in eine von Islamisten gestellte Falle. Keiner der Militärs überlebte den Hinterhalt. Wenige Tage später attackierten Untergrundkämpfer bei al-Qil ein Ausbildungslager der Militärs. Sie töteten 24 Soldaten und erbeuteten ihre Waffen. Solch großangelegte Aktionen sprechen dafür, daß die militanten Islamisten in einigen Gegenden massiv von der Bevölkerung unterstützt werden. Manche Regionen werden dermaßen von Islamisten kontrolliert, daß sich kein Repräsentant des Staates mehr dorthin traut.

Als der derzeitige algerische Präsident Lamine Zeroual Anfang des Jahres von Militärs auf seinen Posten gehievt wurde, versprach er einen „nationalen Dialog“ zur Beilegung der Krise. Im Februar ordnete er die Freilassung von zwei inhaftierten FIS-Führern an. Diese sollte den Weg zu Verhandlungen mit der Untergrundführung der Partei ebnen. Als weitere Geste des guten Willens schaßte Zeroual zwei Falken des Regimes: Premierminister Ridha Malik und Innenminister Salim Saadi, die für eine „militärische Lösung“ des Konflikts mit den Islamisten eintraten. Mehrmals bekräftigte Zeroual, er wolle einen Dialog „ohne Ausnahmen“ führen. In der Bevölkerung wurde das als klares Verhandlungsangebot an die FIS interpretiert. Mehr als 20mal kursierten seitdem Gerüchte, die beiden inhaftierten FIS-Führer Madani und Belhadsch würden freigelassen.

Doch die Hoffnungen wurden enttäuscht. Madani und Belhadsch sitzen immer noch im Gefängnis, und die beiden freigelassenen Kader der Partei wurden mittlerweile unter Hausarrest gestellt. Statt mit der FIS nahm das Regime den Dialog mit verschiedenen politischen Splittergruppen auf und bildete ein „Übergangsparlament“, das keinerlei demokratische Legitimation hat. Die FIS veröffentlichte daraufhin einen Brief Belhadschs, in dem dieser Zeroual Wortbruch vorwirft. Auch die beiden anderen einflußreichen Parteien „Front der sozialistischen Kräfte“ (FFS), die starken Rückhalt unter der Bevölkerungsminderheit der Berber genießt, und „Nationale Befreiungsfront“ (FLN), die das Land von der Unabhängigkeit 1961 bis 1991 als Einheitspartei regierte, verweigerten dem Regime die Kooperation.

Nach Ansicht von algerischen Oppositionellen stecken hinter dem nicht praktizierten Dialog algerische Militärs. Im Juni bestellten sie Zeroual zu einer Sitzung. Während sich der Präsident dort weiterhin für einen Dialog mit den Islamisten aussprach, lehnten die Offiziere eine Teilung der Macht mit wem auch immer ab. In der Frage der Islamisten beharrten sie auf einer „militärischen Lösung“. Zeroual mußte sich dem Willen der wahren Machthaber Algeriens beugen.