Von Bangladesch aus kämpfen

■ Ein offener Brief des bengalischen Dichters Daud Haider an Taslima Nasrin

Es war der Abend des 21. Mai 1974. Der Gefängnisdirektor des Zentralgefängnisses von Dhaka kam zu meiner Zelle, einen Entlassungsbefehl in der Hand. Er riet mir, Bangladesch noch in dieser Nacht zu verlassen, andernfalls würden mich die Mullahs sicher ermorden.

Ich hatte ein langes Gedicht geschrieben, von dem die islamischen Fundamentalisten sagten, es beleidige den Propheten Mohammed und den Islam. Sie stießen eine Fatwa gegen mich aus und forderten meinen Kopf. Mein Haus und mein Büro wurden abgebrannt, einer meiner Cousins verprügelt. In ganz Bangladesch wurden Protestdemonstrationen und Streiks durchgeführt.

Zu dieser Zeit warst Du, liebe Taslima Nasrin, 11 Jahre alt. Wir sind uns nie begegnet. Du lebtest in Mymensingh, weit von der Hauptstadt Dhaka. Heute ist der Abstand zwischen uns noch größer. Ich lebe in Deutschland im Exil, und Du mußt Dich in Deinem eigenen Land verstecken. Bis ich 1987 nach Deutschland kam, lebte ich in Indien. Im Februar 1979 hatte das Militärregime meinen Paß eingezogen. Diese Anordnung ist auch heute noch gültig. Mehr als 20 Jahre habe ich mein geliebtes Bangladesch nicht besuchen können.

Vor zwei Jahren hörte ich Deinen Namen zum ersten Mal. Jemand hat mir hier von Dir erzählt. Du hattest mehr als 15 Bücher geschrieben, darunter Erzählungen, Gedichte, Essays, Romane. Das machte mich neugierig. Ich besorgte mir einige Deiner Bücher und las sie. Es gehört großer Mut dazu, wie Du die Religion, den Chauvinismus und die religiöse Unterdrückung der Frau anzugreifen. Nach dem Lesen war ich besorgt: Wie wirst Du in einem rückwärtsgerichteten und halb islamischen Land überleben können, wo der Fundamentalismus so stark ist? Du nimmst Dir die Freiheit, offen zu sagen, was immer Du denkst. Es mag sein, daß in Deinen Gedichten die bengalische Metrik manchmal nicht ganz stimmt. In Deiner Prosa finden sich mehr Fragen als Antworten, Deine ganze Wut tritt offen zutage. Ich glaube nicht, daß Du für die Antworten oder Lösungen zuständig bist. Ich bin eher stolz, daß Du, aus dem ärmsten Land der Dritten Welt, so direkt gegen religiösen Fanatismus und gesellschaftliche Diskriminierung angehst.

Taslima, Du weißt, daß die Mullahs und die Fundamentalisten keine Kritik an ihrer eigenen Haltung gelten lassen wollen, und schon gar nicht am Propheten Mohammed, am Koran oder am Islam. Hinter ihnen stehen islamistische Parteien, die sie massiv unterstützen. Diese Parteien operieren von islamischen Ländern aus – Saudi-Arabien, Iran. Die Jamat-i- islami, die meistbekannte islamistische Organisation, wird direkt von Saudi-Arabien alimentiert. Diese Partei hat nie an Bangladesch geglaubt. Als 1971 die Befreiungsbewegung in Gang kam, hat die Jamat-i-islami auf seiten der pakistanischen Armee gekämpft; nahezu drei Millionen Menschen wurden getötet. Tausende von Frauen wurden vergewaltigt. Häuser abgebrannt. Heute verbrennen sie die Fahne von Bangladesch. Sie töten ihre Gegner. Unliebsame Studenten an Colleges und Universitäten werden an Händen, Beinen und Augen verstümmelt. Die Eltern haben Angst, ihre Kinder weiter dorthin zu schicken. Die politische Situation in Bangladesch eskaliert. Die Regierung hält sich bedeckt, tut nichts. Sie möchte die Unterstützung durch Saudi-Arabien nicht gefährden. Bei der Regierungsbildung in Bangladesch hat die Jamat-i-islami starken Einfluß ausgeübt. Einige der hohen Beamten, Minister und sogar die Präsidentin sind entschiedene Unterstützer der Jamat-i-islami.

Bangladesch war einmal ein säkularer Staat. Nach der Ermordung von Scheich Mujibur Rahman, dem „Vater der Nation“, wurde der Säkularismus von dem Militärregime ausgehöhlt. Das zweite Militärregime ging einen Schritt weiter und verkündete: „Der Islam ist Staatsreligion.“ Es leben aber weiterhin Hindus, Buddhisten und auch Christen im Land.

In Bangladesch gibt es mehr als 120 politische Parteien. Die Hälfte von ihnen kann man als proislamisch oder fundamentalistisch bezeichnen. Mit zwei oder drei Ausnahmen haben diese Parteien kaum eine Basis. Trotzdem werden sie von der Regierung und von fundamentalistischen Zeitungen unterstützt.

Die Praxis der Fatwa ist in Bangladesch nichts Neues. Man kennt das seit 1974. Seit 1990 hat man allerdings ständig neue Höhepunkte erleben müssen. Sechs junge Mädchen wurden durch eine Fatwa getötet. Sie waren alle unter 20. Sie kamen um durch Verbrennen, durch Steinigung oder wurden zu Tode geprügelt. Die Fatwas richten sich auch gegen einige prominente Schriftsteller, Professoren, Intellektuelle. Einer von ihnen ist der hoch respektierte Professor Dr. Ahmad Sarif. Die Fundamentalisten fordern seinen Kopf. Sie haben Molotowcocktails auf sein Haus geworfen. Einem Redakteur einer bekannten Wochenzeitschrift des Landes ergeht es genauso. Zwei Redakteure wurden verhaftet, weil sie „die religiösen Gefühle der Muslime beleidigten“.

Es mag interessant sein zu wissen, daß eine Fatwa sich auch gegen die Frauen derjenigen Mullahs richten kann, die sie aussprechen. Wenn die Frau nämlich die Fatwa nicht unterstützt, kann der Mann sich durch das Aussprechen dreier Worte von ihr trennen: „Talak, Talak, Talak.“ Das schüchtert die meist ungebildeten und ohnehin abhängigen Frauen ein.

Die Jamat und andere islamistische Parteien setzen heute die Regierung unter Druck, damit sie die Gesetzgebung über Blasphemie verschärft. Das alte britische Blasphemiegesetz von 1860, das in Bangladesch noch gilt, reicht ihnen nicht. Sie wollen die Todesstrafe.

Die Gegenseite – die Intellektuellen, die Schriftsteller, die säkularen politischen Parteien, die Frauenorganisationen und die Studenten –, schaut dem nicht tatenlos zu. Sie protestieren öffentlich und fordern ein Verbot der islamistischen Parteien.

Am Ende des 19. Jahrhunderts wurde Begum Rokaya zur Pionierin der bengalischen muslimischen Frauenbewegung. Sie entstammte einer streng gläubigen muslimischen Familie. Als Schriftstellerin wurde sie berühmt. Im Bangladesch von heute sind einige ihrer Träume wahr geworden. Premierminister ist eine Frau, Oppositionsführer ist eine Frau, zwei Minister und 32 Parlamentarier sind Frauen.

Taslima, Du bist ein Kind der Mittelklasse und als Muslima aufgewachsen. Die Mittelklasse von Bangladesch befindet sich in einer Identitätskrise; für Dich ist die Herkunft aus dieser Schicht nicht folgenlos geblieben. In Deinen Werken vermittelst Du einen Eindruck davon. Trotzdem kämpfst Du gegen die Mullahs und den Fundamentalismus. Du kämpfst für uns. Du solltest weiter von Bangladesch aus kämpfen. Von draußen kann man nichts bewirken. Wenn Du das Land verläßt, da bin ich mir sicher, wird der Kampf in Bangladesch aufhören. Ich weiß sehr wohl, daß Du in großer Gefahr bist, daß Du jeden Moment von den Islamisten getötet werden kannst.

Taslima, Du bist nicht allein, wir stehen zu Dir. Hier in Berlin und anderswo organisieren wir Seminare und Diskussionen über Deinen Fall. Die bangladeschischen Gemeinschaften schicken Protestbriefe gegen den Haftbefehl an die Regierung. Wir fordern, daß dieser Haftbefehl rückgängig gemacht wird und Dir voller Schutz vor Deinen Verfolgern gewährt wird.

Wo auch immer in der Welt Bengalis leben, bemühen sie sich, die öffentliche Meinung auf Deine Seite zu bringen. Wir sind nicht allein. Salman Rushdie hat einen offenen Brief an Dich geschrieben, der in vielen Ländern der Welt, auch in Bangladesch, veröffentlicht wurde. In führenden bengalischen Zeitungen und Zeitschriften konnte man lesen: „Salman Rushdie ist in Taslima verliebt. Sie werden bald heiraten.“

Liebe Taslima, laß Dich von der Fatwa und den Haftbefehlen nicht unterkriegen. Wir stehen zu Dir. Bangladesch ist ein Land des Kampfes.

Dein

Daud Haider

Aus dem Englischen von Jörg Lau

Der Dichter Daud Haider mußte Bangladesch 1974 auf Druck islamistischer Kreise verlassen. Er lebt nach langen Jahren im indischen Exil in Berlin und arbeitet als Journalist für den Bengali Service der Deutschen Welle.