Ein Flüchtlingslager mitten im Ölfeld

Über eine Million Menschen sind vor dem Krieg in der Kaukasus-Enklave Nagorny Karabach geflohen, 200.000 in die Hauptstadt Aserbaidschans. Doch die dortige Regierung kann ihnen kaum helfen  ■ Aus Baku Jürgen Gottschlich

Der Anblick ist wahrhaft apokalyptisch. Öllachen von der Größe eines Fußballfeldes, geborstene, aufgeplatzte Rohre, abstrus verdrehtes Eisengestänge, das ganze Gebiet durchzogen von tiefen Rinnen, die statt Wasser ein schmieriges Ölgerinnsel transportieren. Kilometer um Kilometer reiht sich ein Bohrturm an den anderen, allerdings ohne erkennbare Systematik, wild in der Landschaft verteilt. Über allem eine Dunstglocke, die einen Gestank festhält, der einem den Atem nimmt.

Ungefähr jedes zehnte Bohrgestänge bewegt sich noch. Elektromotoren treiben einen Keilriemen an, der wiederum die Schwungscheibe der Pumpe in Bewegung setzt. Die Monotonie dieser Bewegung, außer der in weitem Umfeld kein Laut, kein Leben zu sein scheint, verschärft die Beklemmung und läßt eine diffuse Endzeitstimmung aufkommen.

Zunächst ist kein Mensch zu sehen. Niemand scheint sich dafür zu interessieren, ob hier tatsächlich noch Öl von irgendwo nach irgendwo gepumpt wird. Doch der Schein trügt. Zwischen den Bohrtürmen sind halb verfallene Hütten zu erkennen. Die meisten stehen vereinzelt und sind nur durch Trampelpfade mit dem Schotterweg verbunden, der sich durch das Ölfeld bis ans Meer schlängelt. Was von weitem verfallen und verlassen wirkt, ist in Wahrheit bewohnt, sogar in drangvoller Enge. Die ersten Lebenszeichen kommen von streunenden Hunden. Dann erscheinen, neugierig geworden, auch menschliche Bewohner des Ölfeldes. Zerlumpt und verdreckt – es gibt kein Wasser in dieser Industriebrache – bestaunen sie die Besucher.

Gewöhnlich kommt hier niemand vorbei, der nicht einen triftigen Grund dafür hat, schon gar keine Ausländer. Nach anfänglichem Mißtrauen erzählen zwei Männer dann, warum sie hier sind: Sie sind Flüchtlinge. Das Ölfeld, auf dem sie jetzt leben, ist eines der ältesten der Welt, am Rande von Baku, direkt am Kaspischen Meer. Der Krieg im 400 Kilometer weiter westlich gelegenen Nagorny Karabach hat sie nach Baku vertrieben. Alle Aserbaidschaner haben die von den Armeniern eroberten Gebiete verlassen – vertrieben oder aus schierer Angst geflohen. Fast am Ende des Ölfeldes, an einer Stelle, an der ein schmaler Meeresarm in die Industriebrache hineinreicht, lebt eine Großfamilie, die es im Vergleich zu den anderen Bewohnern des Ölfeldes noch gut getroffen hat.

Sie waren als eine der ersten Flüchtlingsgruppen ins Öl gezogen. Freunde hatten ihnen den Tip gegeben, daß neben einer alten Werkshalle einige Baracken leerstanden. In besseren Zeiten hatte darin der Kulturverein des Werkes getagt. Sie haben immerhin Wasser, und die Männer können durch Gelegenheitsjobs auf dem Ölfeld ab und zu etwas Geld verdienen.

Die Familie kam aus Kubatli, einem ehemals größeren Dorf auf einer Anhöhe zwischen Armenien und Nagorny Karabach in der Nähe des Latschin-Korridors – der ersten Landverbindung, die die Armenier von Karabach ins Mutterland eroberten. Das war 1992. Mittlerweile haben die Armenier das gesamte Gebiet zwischen Nagorny Karabach und Armenien, das Land südlich von Karabach bis zur iranischen Grenze und einen mehrere Kilometer breiten Streifen östlich von Karabach besetzt.

Die meisten dieser Gebiete verloren die Aserbaidschaner im letzten Sommer, als ein großer Teil ihrer Armee damit beschäftigt war, gegen den damaligen Präsidenten Abulfaz Eltschibej zu putschen. Seitdem lebt die Familie in den Baracken am Rande des Ölfeldes. Sie konnte damals fliehen, bevor die Armenier Kubatli erreichten, „sonst hätten die uns sicher umgebracht“, meint der Familienvater. Sie berichten von Massakern, die armenische Truppen angeblich in anderen Dörfern verübt haben, „sogar den Kindern wurden die Köpfe abgeschnitten“. Doch es ist schwierig, genaue Informationen aus den Leuten herauszuholen. Orts- und Zeitangaben gehen wüst durcheinander, Fluchtwege werden als wirre Linien in den Staub gezeichnet, und mit einer Landkarte können die meisten nichts anfangen. Wirklich verbürgt ist ein Massaker, das armenische Milizen bereits 1991 in dem aserbaidschanischen Dorf Hodschali begingen.

Diese Untat hat die aserische Bevölkerung in und um Karabach nachhaltig traumatisiert – der Krieg um Karabach gehört, wie der im früheren Jugoslawien, zu den Auseinandersetzungen, in denen eroberte Gebiete nach der Schlacht ethnisch „sauber“ sind. Bis zum Mai dieses Jahres – seitdem wird nicht mehr gekämpft, ist der erste relativ stabile Waffenstillstand in Kraft – wurden in Aserbaidschan über eine Million Menschen vertrieben. Die UN- Flüchtlingshilfsorganisation UNHCR zählte im April dieses Jahres 1.062.460 Vertriebene bei einer Gesamtbevölkerung von 7 Millionen.

Die Flüchtlinge im Ölfeld gehören zu den rund 200.000, die bis Baku gekommen sind. Fatma Abdulla-Zade, eine enge Beraterin des jetzigen, nach dem Putsch an die Macht gekommenen Präsidenten Gaidar Alijew, macht keinen Hehl daraus, daß der aserbaidschanische Staat mit dieser Anzahl von Flüchtlingen heillos überfordert ist. „Wir können nur einen kleinen Teil der Vertriebenen unterbringen, unsere Möglichkeiten sind schon lange erschöpft.“ Rund 100.000 leben in Flüchtlingscamps einige Kilometer hinter der Front. Sie sind die einzigen, die entweder vom aserbaidschanischen Staat oder aus der Türkei, Saudi-Arabien und dem Iran, die ebenfalls Flüchtlinglager unterhalten, direkt unterstützt werden.

Das saudische Lager liegt in einem Niemandsland zwischen den beiden Orten Terter und Bardar, 30 Kilometer hinter der nördlichen Front. Ungefähr 600 Familien, knapp 3.000 Menschen, leben hier. Auf dem gesamten Gelände steht kein Baum und kein Strauch. Bei 40 Grad Celsius im Schatten herrscht in den Zelten eine Temperatur wie im Backofen. Nachdem wir das Lager betreten haben, sind wir augenblicklich von einer Gruppe Kinder umringt. Sie sind begeistert, Fremde zu sehen, die sie auch noch fotografieren wollen. Das Lager besteht aus einer ungefähr zwei Kilometer langen Staubpiste, die an beiden Seiten von Zelten gesäumt ist. Hinter der einen Lagerreihe verläuft ein ehemaliges Bewässerungsrohr für Baumwollfelder, aus dem die Flüchtlinge jetzt ihren Wasserbedarf decken.

Ein Lagerpolizist hat die Führung übernommen und stellt uns als erstes die Schule vor. Sie sei besser als viele reguläre Schulen in Aserbaidschan, meint der Lehrer stolz, und die Kinder seien auch mehr motiviert, etwas zu lernen. Bereitwillig erzählen die Leute ihre Geschichte, berichten, daß sie sich mit ihren Nachbarn, ihren armenischen Nachbarn, in Karabach gut verstanden hätten. Warum die Armenier nicht mehr mit ihnen zusammenleben wollten, können sie nicht verstehen. „Denen ging es doch sowieso besser als uns. Was wollen sie sich da beschweren?“

Aus armenischer Sicht hört sich das selbstverständlich anders an. Karabach-Armenier behaupten unisono, sie seien seit der Eingliederung Karabachs in den Verwaltungsbereich der Sowjetrepublik Aserbaidschan unterdrückt, diskriminiert und teilweise in die Sowjetrepublik Armenien verdrängt worden. „Unsinn“, befinden die Flüchtlinge, von denen viele aus Susha, der ehemals größten aserbaidschanischen Stadt in Karabach, stammen. Eigentlich seien auch die Armenier gar nicht schuld am Ausbruch des Krieges, sondern die Russen. „Die Russen haben die Konflikte provoziert und die Armenier angestachelt.“ Der ganze Krieg diene nur den Interessen Rußlands, das weiterhin sowohl Aserbaidschan als auch Armenien kontrollieren wolle. „Armenien und Aserbaidschan haben nichts vom Krieg.“

Trotz der militärischen Niederlagen der Aseris hoffen die meisten Flüchtlinge, demnächst wieder in ihre Heimat zurückkehren zu können. Da sie davon überzeugt sind, daß tatsächlich die Russen und nicht die Armenier den Krieg gegen sie führen, gehen sie davon aus, daß, wenn Rußland seine Ziele erreicht hat, die russische Armee den Armeniern sagen wird, sie sollen sich zurückziehen und die Flüchtlinge wieder in ihre Dörfer lassen.

Noch ist es in Aserbaidschan nicht vorstellbar, den Konflikt, wie im Nahen Osten demonstriert, nach der Formel „Land gegen Frieden“ zu beenden. Angefangen von den Flüchtlingen über jeden beliebigen Taxifahrer bis hin zu weltoffenen Künstlern und Intellektuellen in Baku gibt es niemanden, der für einen Verzicht auf Karabach plädiert, wenn die Armenier sich dafür aus den anderen besetzten Gebieten zurückziehen.

Trotzdem ist der Koordinator des Roten Kreuzes, der von Bardar aus die medizinische Versorgung des Gebietes betreut, optimistisch, daß „der Waffenstillstand halten wird und sich weiter verfestigt“. Ein Blick auf die Karte zeigt, warum das so ist. Die Armenier haben ihre Kriegsziele erreicht und können sich jetzt erst einmal zurücklehnen. Daß die aserbaidschanische Armee in ihrem gegenwärtigen Zustand dazu in der Lage sein sollte, ihrerseits vorzurücken, wird von allen Experten bezweifelt. Kleinere Kompromisse werden die Karabach-Armenier dennoch machen müssen, darauf drängt der armenische Präsident Ter-Petrosjan. Auch den kommenden Winter wieder ohne Öl, Strom und Gas in kalten Wohnungen zu hocken könnte den Patriotismus der Bewohner Jerewans ins Wanken bringen. Mindestens eine Lockerung der Blockade ist ein wichtiges Ziel der laufenden Verhandlungen.

Auch die Russen könnten im Moment ein echtes Interesse an einem stabilen Waffenstillstand haben. Boris Jelzins Sonderbotschafter für den Kaukasus hat seine Aktivitäten intensiviert. Er pendelt zwischen Baku, Jerewan und Stepanakert, trifft eine KSZE-Delegation in Moskau und redet mit den Türken. Wenn die in Baku zirkulierenden Gerüchte auch nur ein Körnchen Wahrheit enthalten, haben die Russen eines ihrer Hauptziele in der Region erreicht: eine Partizipation am aserbaidschanischen Öl. Angeblich sind die Verhandlungen mit einem westlichen Ölkonsortium unter US-amerikanischer Führung so weit gediehen, daß vielleicht schon in einem Monat unterschrieben wird. Die Russen durften sich bei dem aserbaidschanischen Joint-venture-Partner einkaufen und sind so mit von der Partie.

Dann endlich, so hofft man in Baku, werden die Öldollars sprudeln, hält der Kapitalismus am Kaspischen Meer Einzug. Vielleicht wird dann auch das alte Ölfeld wieder instand gesetzt, unter dem immer noch beträchtliche Mengen verborgen seien sollen. Und vielleicht gibt es dann ja auch Mittel, um für die dort lebenden Flüchtlinge menschenwürdige Unterkünfte zu bauen.