■ 80 Jahre nach Bewilligung der Kriegskredite durch die SPD
: Der Komplex der Nation

„Große Tage“ der Geschichte zeichnen sich gewöhnlich dadurch aus, daß sie, wenn überhaupt, bestimmt nicht so stattgefunden haben bzw. verstanden wurden, wie sie in den Geschichtswerken überliefert sind. Der 4. August 1914, der Tag, an dem die Reichstagsfraktion der SPD geschlossen den Kriegskrediten zustimmte, hat sich nicht nur exakt so zugetragen, wie er uns überliefert worden ist. Er wurde von den Akteuren und den Zeitgenossen darüber hinaus als die tiefe Zäsur empfunden, die er tatsächlich war. Von keinem einzelnen Ereignis in Deutschland ist in diesem Jahrhundert eine so lang anhaltende, emotional so polarisierende Wirkung ausgegangen. Noch die Studentenbewegung der 60er Jahre konnte angesichts der Großen Koalition aus dem „Wer hat uns verraten, Sozialdemokraten!“ eine trügerische revolutionäre Identität schöpfen. Man könnte nun argumentieren, durch den Zusammenbruch des europäischen Realsozialismus habe sich der Zyklus geschlossen, der im August 1914 eröffnet wurde. Nachdem sich ihr Widerpart verabschiedete, hat die SPD das historische Feld behauptet – mitsamt dem dazugehörigen Inventar von „gültigen“ geschichtlichen Interpretationen. Aber: Auch wenn sich die proletarische Revolution als Scheinalternative zum bürgerlichen Reformismus herausgestellt hat – das Datum des 4. August ist für das Verständnis, für die Wertung der Sozialdemokratie von Bedeutung – auch in deren heutiger Gestalt.

Von der allzu einfachen Verratshypothese, nach der die sozialdemokratische Führung im August 1914 eine kampfbereite Arbeiterklasse dem deutschen Militarismus ausgeliefert habe, hatte freilich die Geschichtsschreibung längst Abstand genommen. Es hat sich herumgesprochen, daß die Kriegsbegeisterung der Augusttage in Deutschland keineswegs auf die herrschenden Klassen und ihren bürgerlichen Anhang beschränkt blieb. Aller Ausgrenzung durch die Machteliten des Kaiserreichs zum Trotz hatte die wilhelminische Version des „Nationalen“ sich tief ins proletarische „Gegenmilieu“ eingefressen. Wichtiger noch war, daß sich das Ja zu den Kriegskrediten auf die in der SPD weit verbreitete, wenngleich irrige Ansicht stützte, für einen gerechten Verteidigungskrieg gegen Rußland einzutreten. Daß ein solcher Krieg gegen den Despotismus des Zaren legitim war, konnte auch aus Marx und Engels herausgelesen werden, wenn man die einschränkenden Bedingungen übersah. Deren wichtigste: Die Arbeiterparteien mußten unter der Losung der Volksbewaffnung selbst entscheidend Einfluß auf das Kriegsgeschehen nehmen, um nach dem Sieg über den Aggressor von der nationalen zur sozialen Befreiung fortzuschreiten.

Schon in den zwanziger Jahren hatte der Sozialist und Historiker Arthur Rosenberg konstatiert, daß das Deprimierendste am 4. August 1914 ein zweifacher Verzicht der Sozialdemokratie war: den „Burgfrieden“ an sofortige demokratische Reformen zu binden und Einfluß auf die Kriegführung, insbesondere auf die Kriegszielpolitik zu nehmen. Selbst wenn man unterstellt, daß es in den Augusttagen weder der SPD- Führung noch den „Massen“ möglich war, den imperialistischen Charakter des Krieges auch von deutscher Seite zu erkennen – diese Selbstentmachtung, diese gewollte Unfähigkeit zur Politik ist damit nicht erklärt. Sie kann nur verstanden werden, wenn man die Politik der SPD als „Aufbruch in die Nation“ interpretiert, als Sehnsuchtsgeste, als Vorleistung, der die Aufnahme der sozialdemokratischen in die bürgerliche Welt folgen sollte. Der sozialdemokratischen Welt wohlgemerkt und nicht nur der offen kriegsbegeisterten Fraktion. Weshalb die – zentristische – Führung der SPD bis 1916 den aussichtslosen Versuch unternahm, gleichzeitig die Einheit der Partei zu wahren und die Kriegführung des kaiserlichen Deutschland selbst dann noch zu unterstützen, als deren imperial-annexionistische Absichten offenkundig wurden.

Im „historischen Gedächtnis“ vieler SPD-Anhänger ist heute die Reichstagsrede, mit der Hugo Haase (selbst ein Gegner des Krieges) am 4. August die Kriegskredite bewilligte, durch eine andere Reichstagsrede ausgelöscht: die, mit der Otto Wels 1933 Hitlers Ermächtigungsgesetze ablehnte. Aber die Integration der Sozialdemokratie in den Weimarer Staat und der „Verfassungspatriotismus“, mit dem die Partei fast als einzige die demokratischen Institutionen Weimars verteidigte, bedeuteten nicht, daß damit das Verhältnis der SPD zum Komplex der deutschen Nation endgültig geklärt worden wäre. Nach dem Zweiten Weltkrieg versagte Schumachers Sozialdemokratie darin, der Westintegration eine demokratisch-sozialistische Pointe abzugewinnen, und verschanzte sich hinter einer nationalen Rhetorik, die ebenso hohl wie realitätsblind war. Der eiserne Kanzler Schmidt ließ in den Wahlkämpfen der siebziger Jahre die Modernisierung der Bundesrepublik als „Modell Deutschland“ anpreisen. Und schließlich griff Willy Brandt in der Nacht des 9. November zu der organizistischen Metapher, nach der „zusammenwachsen soll, was zusammengehört“.

Diese Angestrengtheit, diese fast gewaltsame emotionale Überhöhung des Nationalen hat es der SPD bis heute unmöglich gemacht, zu dem gesamten Komplex eine rationale Haltung zu finden. Worin das Spezifische der deutschen Entwicklung besteht, es wäre so schwer nicht auszumachen. Und woran im Prozeß der Vereinigung angeknüpft werden, was ausgebaut werden könnte – der Regionalismus etwa, Selbstverwaltungsstrukturen oder die Vielfalt städtischer Kulturen –, es könnte mit ruhigem Selbstverständnis benannt werden, ohne in die Falle einer selektiven historischen Erbediskussion zu laufen. Aber das Verhältnis der SPD zur Nation ist weiterhin angstbesetzt. Mit der Folge der Überidentifikation – oder der reflexhaften Ablehnung.

All dies zeigte sich gebündelt in der Diskussion über die Abschaffung des Rechts auf Asyl. War es nicht die Angst davor, von einer Welle „nationalen Selbstbehauptungswillens“ angesichts der „Überfremdung“ weggespült zu werden, die die SPD die Waffen strecken ließ? Wie läßt sich ferner die Unfähigkeit der Partei erklären, in der euphemistisch „Asylkompromiß“ genannten Übereinkunft irgendein substantielles Zugeständnis zu erreichen, wenn nicht aus demselben Grund? Und zwingt all dies nicht zu dem Schluß, daß die Lehren aus jenem fatalen 4. August 1914 immer noch nicht gezogen sind? Christian Semler