■ Arabische Intellektuelle und der Fall Taslima Nasrin
: Neben der Angst die Frage des Stils

„Die Gebildeten in der Dritten Welt wissen mehr als die Europäer, denn die kennen nur Europa“, meinte neulich spitzbübisch lächelnd der sudanesische Islamisten-Führer Al-Tourabi in einem TV-Interview. Dies könnte die Kampagne für die Schriftstellerin Taslima Nasrin bestätigen bzw., genauer gesagt, das Unverständnis in Europa, weshalb Intellektuelle aus islamischen Ländern zögern, sich öffentlich für Taslima Nasrin einzusetzen. Auch unter arabischen Intellektuellen besteht diese „seltsame Paralyse“, die der indische Journalist Ajoy Bose kürzlich in der taz für die liberalen Muslime Südostasiens konstatierte. Angst spielt dabei sicherlich auch eine Rolle – die physische Bedrohung ist real in ihren Gesellschaften –, aber dies ist nur die halbe Wahrheit. In Europa wird leicht übersehen, daß trotz der Angst vor terroristischen Islamisten viele arabische Intellektuelle bemüht sind, sich im Rahmen eines inhaltlich vom Islam geprägten Diskurses zu bewegen. Die meisten von ihnen beziehen sich positiv auf die islamische Kultur und verstehen die Islamisten nicht etwa – wie häufig in Europa – als den zugespitzten Ausdruck des Islam, sondern als eine politische Kraft, die den Islam für ihre Zwecke zu instrumentalisieren versucht.

Dieses völlig andere Selbstverständnis hat Konsequenzen: Wir können uns mit Taslima Nasrin voll identifizieren. Sie hat gehandelt, wie es jede/r europäische Intellektuelle tun würde. Aber in einer islamischen und zudem traditionell patriarchalischen Gesellschaft hat Taslima Nasrin gleich mehrere Tabus gebrochen. Dies läßt diejenigen Intellektuellen zögern, die kein Harakiri im eigenen Land begehen wollen, die in ihrer Gesellschaft Einfluß und Anerkennung behalten wollen. Ich grenze dies ab zu solchen Intellektuellen, für die alle Brücken abgerissen sind, weil sie bereits verfolgt oder stigmatisiert sind – etwa algerische Intellektuelle wie Rachid Mimouni und Rachid Boudjedra oder die Ägypterin Nawal Sadawi.

Taslima Nasrin hat vor allem ein höchst zentrales Tabu verletzt: den Koran öffentlich in Frage zu stellen. Das ist nicht nur eine Frage des Inhalts, sondern auch des Stils. „Bilderstürmerische Intellektuelle“ (Bose) werden nicht geschätzt. Das Mittel der Provokation, also die europäische Methode, die Dinge zugespitzt direkt auszusprechen, wird in vielen Kulturen, auch in islamischen Gesellschaften, eher verachtet. Schon gar nicht ist die Infragestellung des Koran geeignet für eine aufklärende öffentliche Diskussion. Dieses Thema ist schlicht nicht diskursfähig, will man nicht den Ausschluß aus der islamischen Gesellschaft riskieren.

Die islamische Geschichte ist voller Persönlichkeiten, heute würden wir sagen: „Intellektueller“, die wegen Gotteslästerung mit dem Tode bestraft wurden. Vom Hofbeamten Ibn Al Muqaffa, getötet auf Befehl des Kalifen Al-Mansur im Jahre 757, über den Dichter Bassar Ben Burd im Jahre 783, den berühmten Mystiker Al- Halladsch im Jahre 922 und so weiter bis in die heutigen Tage: vor fast zehn Jahren wurde im Sudan der Führer der islamischen Reformbewegung „Republikanische Brüder“, Mahmud Muhammad Taha, hingerichtet, in Kairo starb vor drei Jahren der Publizist Faruq Foda im Kugelhagel einer Islamisten- Gruppe, in Algerien wurden seit zwei Jahren Dutzende Intellektuelle ermordet.

Diese Gewalt war in der islamischen Geschichte stets vorhanden, aber sie wurde auch immer kritisiert. Die Intellektuellen in der islamischen Welt, die sich nicht verbrennen lassen wollen, stellen sich auf diese Diskurs-Tradition ein. Und statt für eine „säkulare“ treten sie für eine „zivile Gesellschaft“ ein. Sie vermeiden es, sich selbst als Atheisten zu bezeichnen, und hüten sich vor negativ besetzten Reizworten – egal wie ihre Freunde in Europa sich auszudrücken pflegen. Eine Überschrift wie die im Spiegel zum Interview mit Taslima Nasrin: „Der Koran ist überflüssig“, kann jeden Intellektuellen in einem islamischen Land ins Abseits stellen, wenn nicht gar zum Verfolgten machen.

Diese Lust der europäischen Medien an der Zuspitzung, die leicht auf Kosten der Genauigkeit geht, hat Intellektuelle aus islamischen Ländern gegenüber diesen Medien sehr mißtrauisch werden lassen; zumal sie wissen, daß die meisten Europäer die sensiblen Punkte ihrer Debatte nicht kennen und schon daher völlig nachlässig mit ihnen umgehen. Auch im Spiegel-Interview hat Nasrin diesen Titel-Satz nie gesagt, sondern argumentiert, daß der Koran für die moderne Gesetzgebung überflüssig sei. Das ist zwar auch ziemlich flott dahingesagt, kann sich aber auf eine ganze Diskussions-Tradition unter islamischen Gelehrten beziehen. Demgegenüber läßt sich kein Muslim auf eine Debatte ein, ob der Koran selbst, die göttliche Offenbarung, überflüssig sei.

Solche „kleinen“ Details markieren in einer islamischen Gesellschaft den Unterschied zwischen Reformer und Ketzer. Interessanterweise wurde ja die derzeitige Jagd auf Taslima Nasrin durch eine ähnliche Ungenauigkeit in einer indischen Zeitung ausgelöst. Sie hatte ein Interview mit dem Satz abgedruckt: „Der Koran muß reformiert werden“ – was soviel heißt wie: die Offenbarung muß erneuert werden – anstatt: die „Scharia“, das Recht, muß reformiert werden.

Aber die Kampagne birgt noch ein anderes Problem, auf das allerdings unterschiedlich reagiert wird: Indem sie in erster Linie von Europa aus initiiert wird, erhält die Solidarität gleichzeitig das Etikett der altbekannten Einmischung des Nordens in Angelegenheiten des Südens. Und damit haben viele Intellektuelle des Südens durchaus ihre Schwierigkeit, drückt die Kampagne doch den Anspruch aus, weltweit zu definieren, welche Werte Allgemeingültigkeit besitzen sollen.

Andere verweisen auf die Abschaffung der Sklaverei, die erst mit Hilfe der Kolonialmächte in der islamischen Welt durchgesetzt wurde und dennoch richtig war. Den Kampf gegen religiös verbrämte Gewalt sehen sie ähnlich. Sie wehren sich gegen die laxe Ansicht, in islamischen Gesellschaften dürften andere Werte gelten, Muslime orientierten sich eben an „anderen“ kulturellen Normen. Solange sie das nur bei sich selbst anders regelten, sollten „sie“ eben in ihrer Art selig werden...

„Halt“, werfen diese Intellektuellen ein: die Islamisten repräsentieren aber nicht „den“ Islam! Und weil sie sich in ihren Ländern in der Defensive fühlen, fordern viele Intellektuelle geradezu internationale Unterstützung, auch aus Europa. Sie freuen sich über die Solidarität, auch wenn sie – aus den erörterten Gründen – nicht in gleicher Weise agieren wollen. Wichtig wäre für sie allerdings, daß nicht einfach „westliche Werte“ von islamischen Gesellschaften abgefordert werden, sondern daß eine internationale Kampagne den gemeinsamen Nenner von Menschlichkeit und Toleranz als Bezugspunkt wählt, der sich auch aus anderen Kulturtraditionen ergibt – nicht nur aus der europäischen Tradition der Aufklärung. Thomas Hartmann

Publizist, arbeitet auch am Berliner „Haus der Kulturen der Welt“