Ein antifundamentalistischer Reflex

Das antifranzösische Attentat in Algerien offenbart Frankreichs Dilemma: Aus Angst vor den Islamisten paktiert Paris mit der Militärdiktatur / Neue Sicherheitsmaßnahmen in Algier  ■ Von Dominic Johnson

Berlin (taz) – Nach der Ermordung von fünf Franzosen in Algeriens Hauptstadt Algier steht Paris vor einer Grundsatzentscheidung: Soll es seine traditionelle Unterstützung für die herrschenden Militärs in der historisch am engsten mit Frankreich verbundenen Ex- Kolonie verstärken, oder soll es jetzt Druck ausüben, damit offizielle Verhandlungen mit der islamistischen Untergrundopposition in Gang kommen?

In seinen Reaktionen auf das Attentat neigt das offizielle Paris bislang zur ersten Linie. Frankreichs Außen- und Verteidigungsminister, Alain Juppé und François Leotard versprachen dem algerischen Staatspräsidenten Lamine Zeroual fortdauernde Unterstützung bei den – nach amtlicher Sprachregelung – Bemühungen der Regierung seines Landes um Wiederherstellung der Stabilität und wirtschaftlichen Reformen. Gleichzeitig kündigte man neue Sicherheitsvorkehrungen für die Franzosen in Algerien an: Die Bewohner des Ausländerviertels, in dem das Attentat vom Mittwoch geschah, werden evakuiert; die schulischen und kulturellen Aktivitäten Frankreichs in Algier sollen an einem einzigen Ort konzentriert werden. Die Stellungnahmen der Minister fügen sich in den seit Monaten zu beobachtenden Trend ein, daß Frankreich nach jedem neuen islamistischen Attentat gegen Ausländer in Algerien seine Hilfe für Algeriens Regime unterstreicht und verstärkt.

Bereits im Januar 1992 akzeptierte die französische Regierung den kalten Staatsstreich des algerischen Militärs – als die Generäle den Wahlsieg der islamistischen FIS (Islamische Heilsfront) bei den ersten freien Wahlen des Landes annullierten, Staatschef Chadli zum Rücktritt bewegten und eine Junta einsetzten. Dies erschien ihr als geringeres Übel gegenüber dem Schreckgespenst einer demokratisch legitimierten islamistischen Regierung – wenige hundert Kilometer von Frankreich entfernt.

Vor 1992 war Frankreich zurückhaltend gewesen in seiner Unterstützung für die als korrupt verschrieene algerische Herrscherkaste, die sich in der Einheitspartei FLN noch dem Sozialismus und der Arabisierung verpflichtet gesehen hatte. Unter anderem registrierte Frankreich aufmerksam, daß gerichtliche Untersuchungen die Unterschlagung von sage und schreibe 26 Milliarden Dollar durch korrupte algerische Militärs und Politiker zutage gefördert hatten – genau die Summe der heutigen Auslandsschuld.

Doch obwohl die Antikorruptionskampagnen des algerischen Staates 1992 im Sande verliefen – vor allem nach der ungeklärten Ermordung des als integer geltenden Chadli-Nachfolgers Mohamed Boudiaf – sagen französische Minister heute bei jeder Gelegenheit, mehr Hilfe für das algerische Regime sei nötig, weil sonst „die Fundamentalisten“ siegen würden.

Daß der seit 1992 währende Bürgerkrieg zwischen Armee und islamistischen Untergrundkämpfern jedes Jahr an Heftigkeit zunimmt, ist für Paris zwar unangenehm – gleichzeitig bietet er aber auch die Legitimation für eine Politik, die sich daraus begründet, der verarmten algerischen Bevölkerung eine „Alternative“ zu den Versprechungen der Islamisten bieten zu wollen.

Anfang Juni erreichte Frankreich, daß bei Verhandlungen im „Pariser Klub“ der Gläubigerländer über Algeriens Auslandsschuld von 26 Milliarden Dollar ein äußerst generöser vierjähriger Zahlungsaufschub für sofort fällige fünf Milliarden Dollar gewährt wurde. Wenig später gewährte Paris Algerien einen Exportkredit von sechs Milliarden Francs. Am vergangenen Dienstag unterzeichneten die beiden Regierungen ein Abkommen über französische Unterstützung für ein algerisches Jugendausbildungsprogramm.

Ob dies konkrete Verbesserungen der Lebensumstände bringt, weiß keiner – sicher ist nur, daß Frankreich als wichtigster Verbündeter der algerischen Militärs mittlerweile als Hauptfeind der Islamisten gilt. „Es wäre einfach, sich aus dieser Falle zu befreien, indem man ein Land und seine Bewohner ihrem Schicksal überläßt“, wiederholte der konservative Pariser Figaro gestern in seinem Leitartikel die amtliche Linie. „Doch damit würde man vergessen, daß ein Sieg der Fundamentalisten unvermeidlich zum Exodus von Abertausenden von Männern und Frauen führen würde“.

Andere verweisen jedoch darauf, daß dieser Exodus schon begonnen hat, und zwar nicht nur aus Furcht vor den Islamisten, sondern auch wegen des brutaler werdenden Bürgerkrieges. „Paris hält zu einer wankenden Macht, die keinerlei Rückhalt beim Volk hat“, schrieb gestern die Pariser Libération, „deren summarische Unterdrückungsmethoden dem islamischen Fundamentalismus in der öffentlichen Meinung sicher den Weg bereitet haben.“

Algeriens verbotene FIS sieht das ähnlich. Der in Bonn lebende FIS-Sprecher Rabah Kebir sprach nach der Algier-Reise der französischen Minister von einer „Provokation für das algerische Volk“ und forderte Paris auf, sich in Algerien „neutral“ zu verhalten. Taktisch weniger geschickt äußerte sich der sudanesische Islamistenführer Hassan al-Tourabi: Er warnte Europa vor einem bevorstehenden „Triumphzug“ des Islamismus in Nordafrika und gab damit den französischen Ängsten neue Nahrung. Zumindest die verbale Eskalation ist bereits im Gange: In Reaktion auf Kebirs Äußerungen forderte Frankreichs Innenminister Charles Pasqua gestern, die in Deutschland lebenden FIS-Aktivisten müßten „unschädlich gemacht werden“.