Die unbequeme Tochter der Stadt

Anna Rosmus verläßt Passau – um in Washington weiterzuforschen / In ihrer Heimatstadt war sie zunehmend Anfeindungen ausgesetzt und stand unter Polizeischutz  ■ Aus Passau Corinna Emundts

Gerade mal 34 Jahre ist sie alt – und hat ihr Testament schon geschrieben. Nachdenklich wird die sonst lebensfroh wirkende Frau plötzlich: Alles sei darin geregelt: wer ihre Kinder erziehen soll und wie, wohin die Dokumente Überlebender des Holocaust zurückgeschickt werden sollen. „Ich glaube zwar nicht, daß es heute passiert, aber irgendwann sicher“, sagt Anna Rosmus.

Sie steht längst unter Polizeischutz, mehrere Morddrohungen gegen sie und ihre zwei Töchter lagen bereits in ihrem Briefkasten. Unzählige anonyme Postkarten mit schwarzen Lettern einer mechanischen Schreibmaschine oder ungleichmäßiger, krakeliger Schrift sind bei ihr angekommen. Die Post stellte Zuschriften mit der Adresse „Judengasse“ und „Zionistengasse“ zu. Auf der „schwarzen Liste“ stehe sie, schreibt einer, „bleib lieber Hausfrau und Mutter“ ein anderer, „du Drecksau“, „du linke Sau“, „Nestbeschmutzerin“ fast jeder. Anna Rosmus hat sich entschieden. Sie, die sich gerne als Einzelkämpferin darstellt, macht weiter. Egal, ob ihr dabei etwas passiert, „das ist es mir wert“. Nur wenn es ihre Kinder träfe, das wäre etwas anderes.

Was macht sie eigentlich? Seit vierzehn Jahren, seit sie als Abiturientin einen Aufsatzwettbewerb über den Alltag in Passau während des Dritten Reiches gewann, versucht sie als Amateurhistorikerin und Buchautorin beharrlich, die NS-Zeit in ihrer Heimatstadt ans Tageslicht zu holen. Dies ist nicht einfach, weil die Passauer die Vergangenheit lieber in verstaubter Obhut der Archive wissen wollen.

Die alltägliche Bedrohung machte Anna Rosmus die Entscheidung leicht, von Michael Berenbaum, Direktor des Holocaust Museums in Washington, das Angebot anzunehmen, im dortigen Research Center weiterzuforschen. „Ich bin in Passau an einen Punkt gekommen, wo ich nicht mehr weiterkomme“, sagt Rosmus. Ihr werde der Zugang zu bestimmten Dokumenten verweigert. Von Washington aus erhoffe sie sich, besser recherchieren zu können, dort würden sie die Behörden unterstützen, dort seien auch die Überlebenden des Holocaust, die sie interviewen wolle.

In Amerika ist Anna Rosmus anerkannt. Als eine von wenigen Deutschen war sie als Gast zur Eröffnung des Holocaust-Museums im vergangenen Jahr geladen und schämte sich, daß weder Kanzler Kohl noch der damalige Bundespräsident Weizsäcker trotz Einladung nicht gekommen waren. Im Juni dieses Jahres wurde ihr ein mit 18.000 Dollar dotierter Preis der amerikanischen „Anti-Verleumdungs-Liga zur Bekämpfung antijüdischer Aktivitäten“ verliehen. Santa Cruz, eine amerikanische Kleinstadt, benannte einen Feiertag nach ihr und lockte mit einem Lehrauftrag.

In Passau tat sich das konservative Konsortium aus Kirche, CSU und lokaler Presse lange schwer mit der unbequemen Tochter der Stadt, die nicht nur Bücher über Judenverfolgung und Nazi-Verbrechen in Passau veröffentlichte, gegen neuen Rechtsradikalismus wie die alljährlichen DVU-Versammlungen demonstriert, sondern auch ehemalige Passauer Juden auf eigene Faust in die Stadt einlud. Einmal brachte sie den damaligen CSU-Oberbürgermeister gegen seinen Willen dazu, einen aus Amerika angereisten Passauer Juden am Bahnhof abzuholen, indem sie anonym eine Meldung in die „Passauer Neue Presse“ lancierte, daß der Oberbürgermeister den Besucher empfangen würde. Der OB kam unter Zugzwang – für den jüdischen Besucher wurde es der größte Tag seines Lebens, wie er später an Anna Rosmus schrieb.

Anna Elisabeth Rosmus wuchs behütet in einer gutbürgerlichen Familie auf. Ihr Vater gewann als CSU-Mitglied, Schulleiter und Vorsitzender des Diözesenrates Passau, „sozusagen gewählter Oberkatholik“, wie Anna Rosmus es ausdrückt, Ansehen. Die Mutter arbeitet als Religionslehrerin, der Onkel als katholischer Pfarrer.

„Was für die Passauer noch viel schwerer verdaulich ist, ist daß meine Familie auch Einfluß hat“, sagt die Tochter. Ihre Familie habe sie von Anfang an unterstützt, „sonst wäre meine Arbeit komplett unmöglich gewesen“. Ein jüdisches Museum im Passau-nahen Pocking habe sie nur mit Hilfe ihres Onkels durchsetzen können. Vater Rosmus wurde nahegelegt, die „Fragerei“ seiner Tochter zu unterbinden oder andernfalls sein Amt niederzulegen.

Der Wandel vom Bürgerkind zum Bürgerschreck brachte für Anna Rosmus Verluste mit sich. Freunde wendeten sich von ihr ab, ihrem Ehemann wurden ihre Aktivitäten und jüdischen Freunde zuviel – er ging. Ob ihrer Beschäftigung ging ihr auch der Glaube an die Religion verloren: Anna Rosmus trat aus der katholischen Kirche aus, „das war eine logische Konsequenz meiner Arbeit.“

Warum macht sie das alles? Aus Wut? Will sie Wiedergutmachung leisten? „Ja“, sagt sie, „die Wut ist mit den Jahren gekommen“, aber was sie zu ihrer Arbeit bewogen habe, seien die Opfer selbst, deren selbstlose Haltung und ihr Wunsch, nicht vergessen zu werden. „Wenn ich nicht mit ihnen spreche und ihre Erinnerungen dokumentiere – wer dann?“

Selbst wenn sie nun den Wohnort wechselt, mit der Geschichte Passaus wird sie sich weiter beschäftigen – und plant bereits eine neue Aktion: Am 4. Mai 1995 sollen rund 150 ehemalige US-Soldaten, die Passau 1945 befreiten, anläßlich des 50. Jahrestages des Kriegsendes nach Passau kommen. „Wenn die Stadt das nicht unterstützt, was ich annehme, werde ich es alleine durchziehen.“

Von ihrem neuen Leben in Amerika sollen auch ihre Töchter profitieren. „Dort lernen sie eine multikulturelle Gesellschaft kennen und werden als Ausländer leben.“ Am Donnerstag hat Anna Rosmus Passau verlassen. Ob sie zurückkommt, weiß sie noch nicht.

Das neue Buch von Anna Rosmus „Befreier und Befreite“ erscheint im November