■ DGB-Beschlüsse
: Ein Programm ist noch keine Praxis

DGB-Beschlüsse:

Ein Programm ist noch keine Praxis

Auf sämtlichen Gewerkschaftstagen und Konferenzen beklagen sich eingewanderte Delegierte darüber, daß ihnen die Rolle einer innergewerkschaftlichen „Rand-“ oder „Exotengruppe“ übertragen werde – einer Gruppe, so sagte es ein Delegierter der IG Metall, die am 1. Mai für bunte Folklore sorge und die man bei (Warn-)Streiks an den Fabriktoren aufstelle, ohne sie an dem erkämpften Kuchen gleichberechtigt zu beteiligen. In diesem Vorwurf kommt die bittere Enttäuschung über die mangelnde Unterstützung seitens deutscher GewerkschafterInnen bei der Durchsetzung ausländerpolitischer Forderungen zum Ausdruck.

Deutsche Gewerkschafter weisen ihrerseits auf die „blitzsaubere“ Beschlußlage zur Gleichstellung der MigrantInnen hin. Zudem führen sie aus, daß sie das Vertretungsdefizit der Einwanderer in den Betrieben wie in den Gewerkschaftsgremien deutlich verringert hätten.

Tatsächlich wurde seit Beginn der siebziger Jahre die Interessenvertretung der Migranten verbessert. Von 1972 bis heute konnte die Zahl nichtdeutscher Betriebsräte im Organisationsbereich des DGB von 3.824 auf 8.381 gesteigert werden. Dennoch sind Ausländer in diesem betriebsverfassungsrechtlichen Organ nach wie vor stark unterrepräsentiert. Auch der Anteil nichtdeutscher Mitglieder in den wichtigen beschlußfassenden Organen und Leitungsgremien der Gewerkschaften ist derart gering, daß man von einer angemessenen Repräsentanz der ausländischen Mitglieder nicht reden kann.

Eine Ausnahme bildet die IG Metall, die ihre ausländischen Mitglieder 1983 als „Personengruppe“ anerkannt hat und sie an den politischen und programmatischen Entscheidungen beteiligt. Migranten können eigene Konferenzen abhalten sowie Richtlinien und Maßnahmen für die künftige Ausländerpolitik ihrer Gewerkschaft vorschlagen. Doch trotz positiver Entwicklungen gilt die Devise „besser organisiert und schlechter repräsentiert“ immer noch auch hier. Nur unter den gewerkschaftlichen Vertrauensleuten sind Migranten entsprechend ihres Anteils an den Mitgliedern vertreten. Gewerkschaftliche Vertrauensleute sind aber genau diejenigen, die betriebliche Aktionen organisieren und die man bei (Warn-)Streiks vor den Fabriktoren aufstellt.

Außerdem bemißt sich die Qualität der Gewerkschaftsarbeit nicht nur am Einsatz für die betrieblichen Belange der Mitglieder, sondern auch am Engagement für die Bürger- und Menschenrechte der Einwanderer und Flüchtlinge. Auch in diesem Zusammenhang verweisen viele Gewerkschaftsfunktionäre immer wieder auf die Beschlußlage. Ein gutes Programm ist allerdings noch lange keine überzeugende Praxis. Zu Recht wird von manchen Einwanderern der Vorwurf erhoben, die Beschlüsse sollten lediglich eine verbale, halbherzige Solidarität demonstrieren, ohne daß die ernsthafte Umsetzung angestrebt werde. Die Beschlußlage sei nach innen gerichtet und solle das schlechte Gewissen beruhigen, wird argumentiert. Mein Eindruck ist, daß die Beschlüsse tatsächlich entweder nicht ernst gemeint sind und als Alibi fungieren, oder daß viele Gewerkschafter keine Courage haben, ihre ausländer- und flüchtlingspolitischen Positionen in der Öffentlichkeit zu vertreten.

Jüngstes Beispiel hierfür ist die Anzeigenkampagne des DGB unter dem Motto „Ausländer haben eine Stimme“. Der Text könnte genausogut vom Arbeitgeberverband oder vom Bundesinnenministerium stammen. Neben der Sorge um das „Ansehen unseres Landes“ angesichts von Fremdenhaß und Rechtsradikalismus enthält der Anzeigentext pikante Stellen, die die Beschlußlage des DGB konterkarieren: So lautet ein Beschluß „doppelte Staatsbürgerschaft für alle, die sie haben wollen“ – in der Anzeige aber heißt es nun: „Der DGB (will) eine doppelte Staatsbürgerschaft für die Ausländer/innen, die von ihren Heimatländern benachteilgt werden, wenn sie ihre ursprüngliche Staatsbürgerschaft aufgeben.“ Das aber braucht der DGB gar nicht mehr zu wollen – denn selbst das viel kritisierte Ausländergesetz läßt in diesen Fällen die doppelte Staatsbürgerschaft zu.

Ein weiteres Beispiel: Laut Beschlußlage fordert der DGB seit 1986 ein „kommunales Wahlrecht für alle nach fünfjährigem Aufenthalt ...“ – in der Anzeige spricht er sich dafür aus, „daß Bürger und Bürgerinnen der Länder der Europäischen Union das kommunale Wahlrecht erhalten“. Auch dies bedarf keiner Forderung mehr – das kommunale Wahlrecht für EU- BürgerInnen ist bereits beschlossene Sache.

Gewiß, die Gewerkschaften können aufgrund der politischen Mehrheitsverhältnisse ihre migrations- und flüchtlingspolitischen Forderungen nicht von heute auf morgen realisieren. Außerdem müssen die Gewerkschaften mit einem Widerspruch leben zwischen selbstgesetztem Anspruch und den partikularen Interessen jener Mitglieder, die von nationalstaatlichem Besitzstandsdenken und Vorurteilen umgetrieben sind.

Viele „moderne“ Gewerkschafter und Politikberater meinen außerdem, Gewerkschaften sollten sich ausschließlich mit Tarif-, Betriebs- und Sozialpolitik befassen. Alles andere sei überflüssiger Ballast. Frauenfrage, Minderheiten, Asyl, Frieden, Ökologie, Bildungspolitik etc. seien Randfragen, die ruhig „Randgruppen“ überlassen werden könnten.

Die Gewerkschaften stehen vor einer Entscheidung: Wenn diese Fassadenmodernisierer an Einfluß gewinnen, werden die Gewerkschaften ausschließlich zu Vertretern der Partikularinteressen von Modernisierungsgewinnern. Wollen die Gewerkschaften jedoch an ihrem universellen Anspruch festhalten, kommen sie an einer konsequenteren und glaubwürdigeren Vertretung der Menschen- und Bürgerrechte eingewanderter Minderheiten nicht vorbei. Nihat Öztürk

Der Autor ist Gewerkschaftssekretär bei der IG Metall in Düsseldorf.