Wenn Frauen Flügel wachsen

■ Autobiographisches von der marokkanischen Feministin Fatima Mernissi

„Ich bin keine Heldin“, sagt Fatima Mernissi von sich selbst und lächelt. Sie sei keine Taslima Nasrin, die ihre politischen Gegner geradezu aggressiv herausfordert, und sie gehöre nicht zu jenen algerischen Frauenrechtlerinnen, die trotz fundamentalistischer Todesdrohungen in bewundernswerter Weise an ihren Überzeugungen festhalten. Auf einer Lesung in Berlin bekennt die berühmteste Feministin des Maghrebs offen, daß sie eine andere Art habe, mit bedrohlichen Entwicklungen wie dem islamischen Fundamentalismus umzugehen: Sie beginne zu träumen. Ihr neues Buch „Der Harem in uns“ sei deshalb ihre Antwort auf eben jene „entsetzliche Mischung von Inquisition und Faschismus“.

Diesmal hat die marokkanische Soziologieprofessorin keine neue Abhandlung über den Islam und die Geschlechterfrage vorgelegt, sondern die Geschichte ihrer eigenen Kindheit in einem Harem in Fes. Es wäre wohl eine völlig ungetrübte Zeit im Hause reicher Großgrundbesitzer gewesen, wenn sie bei ihrer Geburt im Jahre 1940 ein Zipfelchen mehr aufzuweisen gehabt hätte. Aber so gehörte die kleine pummelige Fatima zu jener Spezies, die die Mauern des Harems nicht verlassen durften.

Denn nicht die Vielweiberei, die den mächtigsten und reichsten Männern vorbehalten blieb, machte den Harem aus, sondern das Gefängnisdasein, das die männlichen Mitglieder einer Großfamilie ihren Ehefrauen und Töchtern aufzwangen. Und wenn, wie bei Fatimas Großmutter auf dem Lande, keine Mauern die Frauen umschlossen – die hätten sie ja nur an der Feldarbeit gehindert –, dann ersetzte „der Harem in uns“, die von den Männern gesetzten und von den Frauen verinnerlichten Regeln die äußeren Grenzen des Anstands. Aber warum, so fragt das Mädchen Fatima seine Oma, werden die Regeln „nicht von Frauen gemacht?“ – „Sobald die Frauen den Mut aufbringen, genau diese Frage zu stellen“, erwiderte Großmutter Yasmina, „statt die ganze Zeit pflichtschuldigst zu kochen und zu waschen, werden sie auch einen Weg finden, die Regeln zu verändern und auf der ganzen Welt das Unterste zuoberst zu kehren.“ – „Wie lange wird das noch dauern?“ fragte Fatima, und Yasmina antwortete: „Noch sehr lange.“

Doch sowohl die kleine als auch die große Fatima möchte, daß es sehr viel schneller geht. Daß der Himmel weiter wird als das „kleine, quadratische Fleckchen“, das das Geschlecht der Eingesperrten aus der Perspektive des Innenhofes sieht. Daß sich die Frauen das Blaue vom Himmel herunterwünschen. Oder sich dort hinaufträumen, so wie Mina, eine zum Harem der Mernissis gehörende ehemalige Sklavin aus dem Sudan, in einer Schlüsselgeschichte des Buches, die für die Autorin bis heute eine kraftspendende Vision darstellt.

Mina war nämlich als kleines Mädchen von Sklavenhändlern entführt und nach Marokko verschleppt worden, obwohl die französischen Besatzer die Sklaverei für illegal erklärt hatten. Eines Nachts lief sie weg, doch die Männer fingen sie wieder ein. Um sie zu bestrafen, banden sie Mina an ein Seil und ließen sie in einen tiefen Brunnen hinab. Aber anstatt in schreiende Panik zu verfallen, konzentrierte das Mädchen all seinen Überlebenswillen auf seine Finger um das Seil. Statt in das todbringende Wasser unter ihr blickte Mina in die Wolkenfetzen über ihr und in das Gesicht ihres Peinigers. Der hatte erwartet, „daß ich weinen und schreien würde“, erzählte sie später den Frauen des Harems. „Aber als er keinen Laut hörte und statt dessen zwei blinkende Sterne auf sich gerichtet sah, da hat er mich wieder hochgezogen.“ Ihre Schlußfolgerung: „Es gibt immer einen kleinen Teil des Himmels, zu dem du deinen Kopf emporheben kannst. Also blick nicht nach unten, heb' den Kopf hoch, ganz hoch, und los geht's! Wir lassen uns Flügel wachsen!“

Spätestens jetzt dürfte der oder die Lesende gemerkt haben, wie sehr Fatima Mernissis Erzählweise sich an die von Tausendundeiner Nacht anlehnt. Sowohl in der Form: Die mit viel feinem Witz aus der kindlich-weiblichen Perspektive des Innenhofs erzählten Geschichten sind so miteinander verschlungen, daß man gar nicht mehr zu lesen aufhören mag. Als auch in ihrem Generalthema: weibliche List und Solidarität. Weiland war es die Erzählerin Scheherazade, die einen mordlustigen Sultan mit Tausendundeiner Geschichte in Schach hielt und dadurch sich und Hunderte anderer Frauen rettete. Nunmehr, unter den Frauen des Mernissi-Harems, geht es um den Versuch, sich wenigstens ein paar kleine Freiheiten zu erringen: ins Kino gehen zu können, westliche Mode zu tragen, sich zu bilden.

Fatimas Mutter zum Beispiel, eine kluge Frau, ist Analphabetin. Ihr ummauertes Leben findet sie „hundsmiserabel“. Um so wichtiger ist ihr die Ausbildung ihrer beiden Töchter an einer modernen französischen Schule, um so heftiger beschwört sie Fatima: „Du wirst diese Welt verändern, nicht wahr? Du wirst den Planeten ohne Mauern und ohne Grenzen schaffen, auf dem die Türhüter dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr frei haben.“ Die Tochter hat es sich sichtlich zu Herzen genommen: Sie studierte in Rabat, Paris, Massachussetts, sie wurde Professorin, UNO-Beraterin, Promotorin unzähliger Frauenprojekte. Aber, so sagt sie bescheiden bei ihrer Lesung in Berlin: „Ich hatte einfach Glück.“ Das Glück, in die Aufbruchstimmung nach dem Ende der französischen Kolonialzeit zu geraten, in der es auch für die nationalistisch gestimmten Männer plötzlich zum guten Ton gehörte, ihren Töchtern eine Ausbildung zu gewähren. Und das Glück, aus einem liberalen und begüterten Elternhaus zu stammen, in dem die Frauen nur von der Last der Tradition und nicht durch nackte Gewalt unterdrückt wurden.

Doch diese Last war schwer genug. Ihre Tante Habiba mußte sich unter allen Frauen des Harems am bescheidensten geben, weil sie von ihrem Ehemann verstoßen worden war. Aber: „Das Wichtigste für die Machtlosen ist es, einen Traum zu haben“, sagt sie der kleinen Fatima. „Du bist in einem Harem, wenn die Welt dich nicht braucht. Du bist in einem Harem, wenn es auf deinen Beitrag nicht ankommt ... Nur ein einziger Mensch kann diese Situation ändern und die Welt dazu bringen, sich in die andere Richtung zu drehen, und das bist du.“ Ute Scheub

Fatima Mernissi: „Der Harem in uns“. Herder Verlag 1994, 296 Seiten mit 23 Fotos, 39,80 DM