Katastrophe in Zeitlupe

■ Viel Grund zur Beunruhigung besteht im Vorfeld der 10. Welt-Aids-Konferenz, die am Sonntag in Yokohama beginnt: Die Weltgemeinschaft konnte die Ausbreitung des Virus nicht eindämmen. Vor allem in Asien wütet ...

Viel Grund zur Beunruhigung besteht im Vorfeld der 10. Welt-Aids-Konferenz, die am Sonntag in Yokohama beginnt:

Die Weltgemeinschaft konnte die Ausbreitung des Virus nicht eindämmen. Vor allem in Asien wütet Aids wie nie zuvor.

Katastrophe in Zeitlupe

Wir wissen seit mehr als zehn Jahren, wie das Aids-Virus übertragen wird. Wie kann es diese Welt dann zulassen, daß sich so viele junge Menschen jedes Jahr neu anstecken?“ Mike Merson, Direktor des „Global Programme on Aids“ der WHO, hat diese Frage vor einem Jahr in Berlin gestellt, und er wird sie am Sonntag in Yokohama erneut stellen. Täglich infizieren sich weltweit mehr als 10.000 Menschen mit HIV. Seit der Berliner Konferenz haben sich drei Millionen Menschen mit dem Aids-Virus neu angesteckt. Mehr als die Hälfte von ihnen ist jünger als 25 Jahre. Insgesamt sind jetzt 17 Millionen infiziert, darunter eine Million Kinder. Bei vier Millionen Infizierten ist die Krankheit Aids ausgebrochen. Im vergangenen Jahr waren es nur 2,5 Millionen — eine Zunahme um 60 Prozent.

Auch im Jahre 14 der Pandemie hat es die Weltgemeinschaft also nicht geschafft, die Ausbreitung der Krankheit einzudämmen. Im Gegenteil: Noch nie wurden so viele Menschen infiziert. Schon ein Jahresbudget von drei Milliarden Dollar würde ausreichen, um in den Entwicklungsländern eine effiziente Krankheitsverhütung zu organisieren und Aids aufzuhalten. Ganze 200 Millionen stehen der WHO tatsächlich zur Verfügung – nicht einmal zehn Prozent.

Auf Initiative von Frankreich scheint endlich Bewegung in die Aids-Politik zu kommen. Nach dem Wissenschaftler-Gipfel von Yokohama soll ein politischer Aidsgipfel aller wichtigen Nationen die Hilfe für die Entwicklungsländer organisieren. Die WHO verspricht sich entscheidende Impulse von diesem ersten Aidsgipfel nach 14 Jahren Epidemie. Noch immer ist Geld das wirksamste „Medikament“ gegen Aids.

Das Virus präsentiert unterdessen die Quittung für den halbherzigen Abwehrkampf: In Asien, besonders in Thailand, Indien und Myanmar (Burma), wütet Aids wie nie zuvor. In Chiang Rai im Norden Thailands ist unter den Rekruten bereits jeder fünfte HIV-infiziert. Obwohl die Epidemie in Thailand erst 1988 begann, haben bereits 600.000 Menschen das Virus.

In Indien sind es 1,5 Millionen, in Myanmar 200.000. Unter den Drogenabhängigen Ranguns sind acht von zehn Fixern infiziert, eine einmalig hohe Quote. Der Mangel an Einwegspritzen und ungetestete Blutkonserven beschleunigen die Ausbreitung in Myanmar. Kondome sind nach wie vor Mangelware.Inzwischen zeigen sich auch in Vietnam, Kambodscha und Südchina Anzeichen für einen massiven Einbruch von Aids. Seit der Stationierung der UN-Friedenstruppen hat sich die Prostitution in Kambodscha enorm ausgeweitet. Auch in Vietnam sind die 300.000 Prostituierten besonders gefährdet und zugleich einer der Motoren der Epidemie. Unter den 30.000 Junkies von Ho-Chi-Minh- Stadt ist bereits jeder dritte infiziert. In einigen vietnamesischen Umerziehungslagern für Fixer und Prostituierte ist die Infektionsrate auf 90 Prozent hochgeschnellt. Im Vergleich zu solchen Horrorzahlen liest sich die bundesdeutsche Statistik beinahe beruhigend. Die Zahl der in diesem Jahr neu gemeldeten Infektionen dürfte deutlich hinter der des Vorjahres (6.000) zurückbleiben. Insgesamt sind in Deutschland zwischen 60.000 und 70.000 Menschen infiziert, 11.500 sind an Aids erkrankt. 90 Prozent aller Fälle betreffen nach wie vor homosexuelle Männer und FixerInnen. Die Zahl der 1994 neu gemeldeten Fälle von HIV-Infektionen durch Blutübertragungen: Null!

Bei der Therapie von Aids – sie ist nur in den reichen Industrieländern verfügbar – bleibt AZT das Medikament erster Wahl. Aber es wird zunehmend mit den ähnlich wirkenden antiviralen Substanzen DDI, DDC und D4T kombiniert. Alle vier hemmen das Schlüsselenzym des Virus, die Reverse Transkriptase (RT). Im Nebenwirkungsmuster unterscheiden sich die vier Medikamente beträchtlich, so daß die Therapie besser auf individuelle Unverträglichkeiten der Patienten abgestimmt werden kann. Das besonders verträgliche D4T, Handelsname „Zerit“, ist in den USA bereits zugelassen und wird von deutschen HIV-Schwerpunktpraxen „über den Arzneimittel- Großmarkt“ beschafft.

Zu den verschiedenen Kombinationstherapien der vier Mittel wird in Yokohama eine Reihe von Studien vorgestellt. Dabei geht es vor allem um Resistenzentwicklungen. Nach diesen Resistenzen gegen die antiviralen Arzneien, die durch Virus-Mutationen ausgelöst werden, soll endlich auch in Deutschland verstärkt im Patientenblut gefahndet werden. Bei einem Nachweis wird dann die Therapie umgestellt.

Ein neuer Medikamenten-Typ ist „Saquinavir“ von Hoffmann- LaRoche. Es hemmt die Protease, also jenes Enzym, das dem Virus vor dem Verlassen der Wirtszelle die letzten Proteine zuführt. Saquinavir läßt sich wiederum gut mit den traditionellen RT-Hemmern kombinieren. In ersten Studien, die in Yokohama vorgestellt werden, zeigte sich ein kräftiger Anstieg der CD-4-Helferzellen, bei gleichzeitiger Abnahme der Virusmenge. Mit einer Art „Vorzulassung“, also einer eingeschränkten Abgabe an Schwerkranke, wird noch dieses Jahr gerechnet.

Insgesamt scheint sich die Therapie-Forschung neu zu orientieren. Angesichts der eingeschränkten Erfolge antiviraler Mittel rückt die Immuntherapie stärker in den Vordergrund: Man attackiert nicht mehr das Virus, sondern mobilisiert und stärkt das körpereigene Abwehrsystem in seinem Kampf gegen HIV. Zwei der interessantesten Ansätze sind dabei die Züchtung von Antikörpern und Helferzellen. Die HIV-Antikörper werden aus dem Blut symptomfreier Infizierter isoliert, konzentriert, um sie zu einem späteren Zeitpunkt Patienten zu spritzen. Auch Helferzellen lassen sich in Zellkulturen vermehren, um sie später dem Patienten zuzuführen.

Deutliche Verbesserungen der Lebensqualität von HIV-Patienten sind durch neue Medikamente zur Behandlung der Folgeinfektionen zu erwarten. Beispiel „Ganciclovir“: HIV-Patienten, die aufgrund ihres eingeschränkten Immunsystems an einer Infektion des Zytomegalie-Virus erkrankten – mit der Gefahr des Erblindens –, bekamen täglich Infusionen, was Mobilität und Lebensqualität erheblich einschränkte. Künftig soll das Präparat in Tablettenform und möglicherweise sogar als Augen- Implantat verfügbar sein.

Fortschritte gibt es auch in der Therapie von Tuberkulose und TB-ähnlichen atypischen Mycobakteriosen, die in den letzten Jahren auch in der Bundesrepublik dramatisch zugenommen haben und schwer zu behandeln sind. „Früher sahen wir zweimal im Jahr einen TB-Kranken, jetzt alle zwei Wochen“, berichtet Jürgen Poppinger aus der Münchner Schwerpunktpraxis von Hans Jäger. Künftig steht mit „Rifabutin“ ein neues Medikament zur Verfügung. Mit der Zulassung wird noch diesen Herbst gerechnet. Das Mittel soll auch zur Prophylaxe eingesetzt werden und so die Erkrankungshäufigkeit um die Hälfte senken. Manfred Kriener