Schneewittchens Sittenwächter

■ Fröhliche Blasphemie: Marcia Pallys neues Buch über „Sex & Sensibility“

Wer hätte gedacht, daß „Schneewittchen und die sieben Zwerge“ den Amerikanern einmal gefährlich werden könnten? Oder Goyas „Nackte Maja“ – um nur ein paar der kurioseren Zensurmaßnahmen in den USA zu nennen, die Marcia Pally in ihrem neuen Buch „Sex & Sensibility“ beschreibt. Im Land der unbegrenzten Möglichkeiten herrschen immer noch Sittenwächter, die nackte Brüste im Fernsehen für gefährlicher halten als die Magnum in der Hand eines zwölfjährigen Straßenkids.

Die New Yorker Autorin und taz-Kolumnistin beobachtet seit langem die Angriffe auf die Meinungsfreiheit in ihrem Heimatland und stellt mit Besorgnis fest, daß Gefahr neuerdings nicht nur von rechts, sondern – im Zuge der „political correctness“-Debatte – immer häufiger auch von links droht. Zensiert werden neben pornographischem und gewaltverherrlichendem Material auch Literaturklassiker und selbst private Gespräche unter Studenten. Schulbibliotheken sind davon ebenso betroffen wie Kunstgalerien, Gesundheitszentren oder Hochschulauditorien.

Pally liefert eine anschauliche Liste von Fallbeispielen und analysiert, auf bekannt hohem polemischem und zuweilen akademischem Niveau, die Hauptargumente der Zensurbefürworter. Den gängigen Phrasen, daß die Zensur allein dem Schutze der Frauen, Kinder und Minderheiten diene, setzt die Autorin eine plausiblere These gegenüber: die tiefsitzende Angst des Amerikaners vorm Sex.

Pallys Schlußfolgerung, daß deshalb sexuelle Bilder, auch in Verbindung mit Gewalt, eine therapeutische Wirkung haben könnten, grenzt in den USA immer noch an Blasphemie.

Neben den klassischen Schlachtfeldern der Zensurdebatte, Pornographie, Kunst, Literatur und Gewalt im Fernsehen, diskutiert Pally auch die neuen US- Reizthemen „date raping“, Vergewaltigung nach Verabredung, und die neuen Redegebote an Hochschulen. Dem deutschen Leser mag manches kurios, manches erschreckend vorkommen, aber einige Parallelen zur deutschen Lage lassen sich auch ziehen. Familienministerin Merkel und ihren Gefolgsleuten sei zur Qualifizierung der Debatte über die Wirkung von Gewalt auf deutschen Mattscheiben dringend das entsprechende Kapitel in „Sex & Sensibility“ ans Herz gelegt. Und Kinofans sollten keinesfalls die Passage über das US-amerikanische Filmzensur-System verpassen. Dort verrät Marcia Pally unter anderem das Geheimnis, warum in „E.T.“ kein Penis vorkommt. Ute Thon

Marcia Pally: „Sex & Sensibility – Reflections on Forbidden Mirrors and the Will to Censor“. The Ecco Press, 198 Seiten, 11 Dollar