■ Fidel Castro in der „finalen Krise“?
: Verzweiflungstaten

Die Einreisepolitik der USA gegenüber kubanischen Flüchtlingen ist zynisch und heuchlerisch. Mit einer Massenflucht des eigenen Volkes zu drohen, wie es Fidel Castro getan hat, kommt diesem Zynismus mindestens gleich. Wenn er den USA vorwirft, sie versuchten „die kubanische Gesellschaft zu spalten und in ein Blutbad zu stürzen“, dann übersieht Castro, daß unter der Decke der Einparteienherrschaft und der alles bejahenden Staatsmedien die kubanische Gesellschaft längst vielfach und tief gespalten ist. Und wie muß es um die Wahrnehmungsfähigkeit des Führers der kubanischen Revolution stehen, wenn er in den Unruhen vom Wochenende nur „antisoziale Elemente“ und „Provokateure“ am Werk sieht und nicht Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit? Für viele KubanerInnen ist inzwischen er der antisoziale Provokateur, wenn er als Ausweg aus der dramatischen Krise nicht mehr Rat weiß, als von seinem Volk immer noch mehr Opfergeist zu verlangen, immer absurdere Arbeitseinsätze auf dem Land fordert, statt endlich die Bauernmärkte wieder zuzulassen, oder die Drohung mit der Massenflucht verelendeter Kubaner als taktisches Mittelchen im großen Armdrücken mit dem Imperium nutzt.

Die Herrschaft Fidel Castros war immer autoritär, er war tatsächlich der „Comandante en Jefe“ der kubanischen Revolution. Doch er war als solcher lange Zeit respektiert, verehrt und bewundert, war für die sicherlich große Mehrheit eine Vaterfigur, die die wiedergewonnene Würde der Nation und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft verkörperte. Und auch die autoritäre Absicherung der Macht konnte sich auf großen Rückhalt in der Bevölkerung verlassen, funktionierte subtil und mußte nur selten – für lateinamerikanische Verhältnisse: sehr selten – zu offener Repression greifen. Die Ereignisse vom Wochenende bedeuten hier einen Bruch.

Dabei ist es nicht das erstemal, daß es in Kuba zu „Ausschreitungen“ kam. Bereits im letzten August gab es während der langen Stunden der Stromsperre im ganzen Land so viele eingeworfene Fensterscheiben und Plünderungen, daß die Parteizeitung gegen „Vandalismus“ zu Felde zog und ein härteres Vorgehen von Polizei und Justiz ankündigte. (Nach Zahlen von amnesty international sind in weniger als drei Monaten danach über 2.500 KubanerInnen wegen ihrer „Gefährlichkeit für die Gesellschaft“ für ein bis vier Jahre in den Knast gewandert.) Doch bislang waren die Ausbrüche der Verzweiflung und Frustration noch immer vereinzelt geblieben, im Schutze der Dunkelheit, sichtbar fast nur an den Reaktionen. Diesmal war es anders: Es waren, wenn die Berichte auch nur halbwegs stimmen, Tausende von KubanerInnen, die am hellichten Tage demonstrierten.

Dabei gibt es kein politisches Projekt, das die Protestierenden eint, es sei denn, daß die gegenwärtige Situation nicht mehr auszuhalten ist. Und auffällig ist auch, daß wie schon die „Akte des Vandalismus“ im Vorjahr auch diesmal der Aufschrei offenbar völlig an den Dissidenten und politischen Oppositionsgrüppchen vorbeigegangen ist. Diese hat der Staat nach wie vor unter Kontrolle, und sie haben nach wie vor wenig Verankerung im Volk; es ist das unorganisierte Volk selbst, das implodiert.

Keine Mißverständnisse: Auch die Demonstrierenden im Hafen von Havanna sind nicht „das Volk“, sondern nur ein Teil davon. Sosehr Castros Vision von der „monolithischen Einheit des Volkes“ hinter der Revolution eine Fiktion ist, so sehr ist es auch das Gegenteil. Und diejenigen irren, die – wieder einmal – glauben, nun habe die letzte Stunde Castros aber endgültig geschlagen. Auch ist keinesfalls gesagt, daß die berühmte „Mehrheit“ Castro lieber heute als morgen politisch entsorgt sehen möchte. Die Identifikation von Revolution, Regierung und Nation funktioniert noch immer, und es wird auch jetzt etliche Kubaner auf der Insel geben – keineswegs nur Funktionäre –, die bruchlos und guten Glaubens die Version vom Sieg über die Konspiration des Imperialismus im Hafen von Havanna übernehmen werden.

Hinzu kommt, daß eine politische Alternative nicht absehbar ist, und die einzige, die sich anbietet – die Übernahme durch die bereitstehenden Politicos aus dem Exil in Miami –, vielen Kubanern aus guten Gründen Angst macht. Dennoch: Wenn die Regierung die jetzigen Unruhen nicht als Alarmsignal begreift und zu einem Quantensprung in den Reformen findet, dann ist es eine Frage der Zeit, wann selbst der Sprung ins Nichts mehr Hoffnung zu bieten vermag als das „weiter so“.

Castro redet vom „Blutbad“, in das Kuba stürzen könne, und aus dem Munde der Macht ist dies eine massive Drohung. Und er kündigt bereits an, daß die USA die Schuld daran tragen werden. In der Tat setzt die Erdrosselungspolitik des US-Embargos nicht auf Reformen und friedliche Auswege, sondern auf Zusammenbruch und Verzweiflungstaten. Aber niemand kann die kubanische Regierung und Fidel Castro aus der Verantwortung entlassen, für ein Blutbad in Kuba nicht nur im voraus Schuldige zu suchen, sondern es mit allen Kräften zu vermeiden. Bert Hoffmann