„Provokation“, schimpft Fidel Castro und droht den USA mit der Massenausreise. „Anfang vom Ende“, jubiliert die Springer-Presse. Die Ausschreitungen vom Freitag waren die schwersten seit der Revolution 1959. Von Bernd Pickert

Drohung mit dem Volk

Gespannte Ruhe herrschte am Wochenende in der Gegend des Hafens in Kubas Hauptstadt Havanna. Mit Knüppeln bewaffnete Arbeitermilizen patrouillierten durch die Straßen. Kaum ist die Krise um die Botschaftsflüchtlinge glimpflich überstanden, die Kuba vor eineinhalb Monaten in die Schlagzeilen der Weltpresse gebracht hatte, da kam es am vergangenen Freitag abend zu den schwersten Ausschreitungen in Kubas Hauptstadt Havanna seit der Revolution von 1959. Wo sonst nur unter den Fotoapparaten westlicher Touristen geschickte Fischer ihre bleibeschwerten Haken ins trübe Hafenbecken schleudern, flogen Steine gegen die Polizei. Vorausgegangen waren in den vergangenen zehn Tagen die Entführungen von mindestens drei innerkubanischen Passagierfähren, die von fluchtbereiten KubanerInnen in Richtung USA umgeleitet wurden. Die erste dieser Entführungen hatte ausgerechnet am 26. Juli stattgefunden, dem von der Regierung als Beginn der Revolution gefeierten Jahrestag der Erstürmung der Moncada-Kaserne. Erst am vergangenen Donnerstag hatte die US-Küstenwache insgesamt 117 KubanerInnen in die USA gebracht, die auf einer gekaperten Fähre aus dem Hafen von Havanna aufs offene Meer geflohen waren und etwa 50 Kilometer vor der kubanischen Küste ohne Treibstoff aufgefunden wurden. Bei einer der Entführungen sollen nach Angaben der kubanischen Regierung zwei Polizisten getötet worden sein.

Als am Freitag in Havanna das Gerücht die Runde machte, erneut sei eine Fähre gekapert worden, strömten Hunderte KubanerInnen Richtung Hafen; nach Angaben der US-Vertretung in Havanna sogar bis zu 30.000. Die Polizei versuchte, die Menschen fernzuhalten. Als die ersten Steine flogen, setzte die Polizei Schlagstöcke ein. Es soll auch geschossen worden sein. Ein AFP-Fotograf berichtete, er habe eine Frau gesehen, die von einer Polizeikugel in die Brust getroffen worden sei. Genaue Angaben über Verletzte oder gar Tote liegen jedoch nicht vor.

Aus der Menge bildeten sich spontane Demonstrationen. Etwa 200 Menschen zogen in die Innenstadt, skandierten „Freiheit, Freiheit“ und griffen Touristenhotels und Souvenirläden an, in denen ausschließlich mit westlichen Devisen eingekauft werden kann. Vereinzelt kam es zu Plünderungen. Polizei und die von der Regierung mobilisierten „Brigaden der schnellen Antwort“, eine Art Arbeitermiliz, hatten die Lage nach etwa zwei Stunden unter Kontrolle. Zahlreiche Menschen wurden verletzt, es kam zu vielen Festnahmen. Genaue Daten liegen auch hier nicht vor.

Nur kurze Zeit später besichtigte Staatschef Fidel Castro die Hafengegend. Sichtlich erregt beschuldigte der maximo lider die Regierung der Vereinigten Staaten, für die „Provokationen“ durch die „antisozialen Elemente“ verantwortlich zu sein. Die Politik der USA, illegal Flüchtende zwar als Helden zu begrüßen und mit sofortigem Asyl auszustatten, die legale Einreise in die USA aber zu behindern, provoziere immer wieder medienträchtige Aktionen. „Wir können nicht weiter die Grenzwächter der USA sein“, sagte Castro später im staatlichen Fernsehen und drohte, wenn die USA nicht aufhören würden, illegal Einreisende zu ermuntern, werde Kuba eben einfach aufhören, die illegale Ausreise zu verhindern. Dann würden die Grenzen geöffnet, und alle RegierungskritikerInnen und Unzufriedenen sollten einfach ausreisen.

So überraschend kommt diese Drohung mit der Massenflucht nicht. Schon 1980 hatte Kuba in einer spektakulären Aktion einfach alle Wachposten von der peruanischen Botschaft abgezogen, wo sich Ausreisewillige versammelt hatten. Schließlich drängten sich über 10.000 Menschen in der Botschaft. Als der Hafen von Mariel daraufhin zur Ausreise freigegeben wurde, verließen binnen weniger Tage etwa 125.000 Flüchtlingen die Insel in Richtung USA. Das US-Außenministerium zeigte sich am Samstag auch prompt „sehr beunruhigt“ über die Ankündigungen Castros. Dem kubanischen Staatschef wolle man nicht erlauben, die Bedingungen für eine erneute Massenflucht zu schaffen, sagte Sprecher David Johnson. – In der Politik Castros wäre eine erneute Genehmigung zur Massenausreise durchaus nichts fundamental Neues. Schon seit 1959 entledigte man sich unbequemer Nörgler gerne auf dem Wege der Migration, nicht ohne ihnen ein wütendes „Würmer!“ oder „Abschaum“ hinterherzurufen. Davon ist die Rhetorik mittlerweile abgekommen. Man trifft sich zu Gesprächen mit Teilen des Exils, und man hofft auf die Dollars, die von Familienangehörigen aus Miami geschickt werden.

Verständnis für die Fluchtwilligen zeigt Castro freilich nicht. Aber vor dem Hintergrund einer Wirtschafts- und Versorgungskrise, wie sie das Land in den dreißig Jahren seit der Revolution nicht erlebt hat, gab auch der Staatschef am Wochenende im kolumbianischen Bogotá zu, daß ein ganzer Teil der KubanerInnen mit der derzeitigen Lage im dritten Jahr der sogenannten „Spezialperiode“ unzufrieden ist. Kein Wunder. In allen Bereichen der Wirtschaft ist die Produktion in den letzten Jahren rapide gesunken, die Lebensmittelversorgung, die einst als vorbildlich im mittelamerikanischen Raum galt, ist prekär geworden. Die Zulassung des US- Dollars, die Einführung immer neuer Devisengeschäfte und die Förderung des westlichen Tourismus haben auch die Psyche der KubanerInnen durcheinandergeworfen – gerade jene, für die die Revolution einst angetreten war, leiden am meisten unter der Situation.

Und so hart Castro innenpolitisch gegen jede Art von Opposition vorgeht, so bereit ist er doch, außenpolitisch neue Allianzen zu suchen. In Bogotá wohnte Castro der Amtseinführung des neuen kolumbianischen Präsidenten Ernesto Samper bei und sprach diesen gleich von jeglichem Verdacht frei, sein Wahlkampf sei mit Drogengeldern finanziert worden. „Infame“ Vorwürfe der USA seien das, versicherte Castro. Und damit hat er ja Erfahrung.