Blick in den Spiegel

Das eigene Gesicht als Experimentierfeld: Van Goghs Selbstporträts in Amsterdam  ■ Von Stefan Koldehoff

Fotografieren wollte sich Vincent van Gogh nicht lassen. Der Holländer lehnte die noch junge Technik ab. Er wollte kein Objekt sein, jedenfalls nicht eines der Apparatur. So sind nur drei gesicherte Aufnahmen überliefert: Eine um 1866 entstandene porträtiert den verschlossenen Internatsschüler, ein sechs Jahre jüngeres Bild den angehenden Kunsthandelsazubi. Ein drittes Foto schließlich zeigt van Gogh gemeinsam mit seinem Malerfreund Emile Bernard 1886 am Ufer der Seine in Asnières – nur von hinten.

Trotzdem wird van Goghs Gesicht an Bekanntheit höchstens noch von dem Rembrandt van Rijns übertroffen. 37 Selbstporträts in Öl verzeichnet der noch aktuelle Werkkatalog. Nicht jedes Selbstbildnis ist jedoch authentisch: Einige Sammler wie das Kunsthistorische Museum in Wien oder die amerikanischen Industriellen William Goetz und Chester Dale allerdings haben von der Echtheit ihres vermeintlichen Meisterwerkes bereits Abschied nehmen müssen.

Und auch an anderen Selbstporträts – etwa in der Nationalgalerie in Oslo, dem Wadsworth Atheneum in Hartford/Connecticut und dem New Yorker Metropolitan Museum of Art – haben verschiedene van-Gogh-Forscher bereits massive Zweifel angemeldet.

Unverträglich mit dem Tageslicht

Da trifft es sich gut, daß das Rijksmuseum Vincent van Gogh in Amsterdam diesen Sommer all jene Porträts zeigt, deren Herkunft aus der van-Gogh-Familie als gesichert gilt. Die beiden einzigen Leihgaben stammen aus dem ebenfalls unverdächtigen Den Haag und aus dem benachbarten, nicht unbedingt befreundeten, Stedelijk Museum. Insgesamt 18 Werke hat man im lichtgeschützten zweiten Stockwerk des Museums versammelt – weil einige Arbeiten auf Papier darunter sind, verträgt das Konvolut kein Tageslicht.

Entstanden sind alle ausgestellten Bilder in Paris. „Van Gogh hatte kaum Modelle“, erläutert Sjraar van Heugten, Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Rijksmuseum Vincent van Gogh. „Er hat sich selbst so oft gemalt, weil er ein Feld suchte, auf dem er mit Farbe, Licht und Form experimentieren konnte.“

Zwar hatte Vincents Bruder Theo, der mit dem wirtschaftlich erfolglosen Maler in Paris ab 1886 die Wohnung teilte, durch seine Kunsthändlertätigkeit einen großen Bekanntenkreis; Modell stehen mochte Vincent van Gogh aber, abgesehen von einigen ganz engen Freunden und bezahlten Freundinnen, niemand. So wurde neben Staffelei und Palette der Spiegel zum wichtigen Handwerkszeug.

Welch erstaunliche Wandlung van Goghs Malkunst in den für ihn entscheidenden Pariser Monaten erlebte, belegt die Amsterdamer Ausstellung recht eindrucksvoll. Unter dem Einfluß der von seinem Bruder leidenschaftlich vertretenen Impressionisten wird van Goghs Palette merklich heller. Seine ersten Selbstbildnisse sind noch in den dunklen Erdtönen der holländischen Frühphase auf die Leinwand gebracht. Fünf von ihnen malte van Gogh auf die Rückseite bereits fertiggestellter Stilleben aus seinen holländischen Anfängen. Für eine skeptische Frontalansicht seiner selbst mußte sogar eine Vorstudie zu den „Kartoffelessern“ dran glauben. In der Amsterdamer Ausstellung sind diese Doppelwerke beidseitig zu sehen.

Beinahe programmatisch mutet nach diesen eher traditionellen Anfängen das ursprünglich stark beschädigte und erst kürzlich restaurierte erste „Selbstbildnis als Künstler hinter der Leinwand“ aus dem Frühjahr 1886 an: Während zwar insgesamt noch die dunklen Farben dominieren, hat van Gogh auf die Palette in seiner rechten Hand schon einige leuchtend farbige Tupfer gesetzt. Auf drei zunächst nur postkartengroßen Tafeln, die bislang nur selten öffentlich zu sehen waren, tastet er sich wenig später langsam an die Farbe heran, wagt sich schließlich auch ans große Format und versucht dabei, die verschiedenen Stimmungen des eigenen Gesichtes mit Hilfe von Form und Farbe treffend wiederzugeben. Van Gogh posiert für sich selbst. Der derbe Malerkittel der ersten Selbstporträts ist inzwischen eleganterer Kleidung und einem stadtgemäßen Filzhut gewichen.

„Ich möchte so gerne Porträts machen, die noch in hundert Jahren für die Menschen, die dann leben, Offenbarungen sind“, wird van Gogh später an seine Schwester Willemien schreiben. „Deshalb versuche ich nicht, mit den Mitteln fotografischer Ähnlichkeit zu malen, sondern unsere Leidenschaften auszudrücken – wobei ich unser Wissen und unseren modernen Geschmack in Sachen Farbe als Mittel benutze, den Charakter auszudrücken und zu steigern.“ Aus dieser Kombination von analytischem Verstand und emotionaler Affinität beziehen in den ihm noch verbleibenden drei Lebensjahren van Goghs Porträts und Selbstbildnisse ihre Spannung und Bildkraft.

Für Sjraar van Heugten sind die Selbstporträts deshalb Schlüsselwerke für das Verständnis Vincent van Goghs: „Die Porträts waren neben den Blumenstilleben der Pariser Zeit das Genre, in dem er seinen neuen modernen Stil entwickelt hat. Er hat in ihnen nach einer neuen Bildsprache gesucht – und sie schließlich auch gefunden.“

Im Spiegel der Malerfreunde

Seine Zeitgenossen erkannten das, weit bevor van Gogh selbst darauf stieß und noch mehr verzweifelte. In der Amsterdamer Ausstellung sind auch jene wenigen Darstellungen Vincent van Goghs zu sehen, die zeitgenössische Künstler und Freunde von ihm schufen. Emile Bernard stellte van Gogh für die Titelseite einer Zeitschrift mit Strohhut dar, Henri de Toulouse- Lautrec im Café mit einem Glas Absinth. Der australische Maler John Russell porträtierte van Gogh als selbstbewußten Künstler im Malerkittel und mit Pinseln. Paul Gauguin wird ihn später im südfranzösischen Arles beim besessenen Sonnenblumenmalen auf die Leinwand bringen. Beide Malerfreunde erkannten im notorischen Selbstzweifler Vincent den großen Maler van Gogh.

Unmittelbar vor seiner Abreise aus Paris nach Arles wagt der endlich auch selbst den großen Wurf. Das „Selbstbildnis mit Staffelei“ von 1887 – eines von nur zwei signierten Werken der Ausstellung – beendet die Amsterdamer Ausstellung.

„Dies ist ein wirklich vollendetes Bild“, beurteilt Sjraar van Heugten die selbstbewußte 65 mal 50,5 Zentimeter messende Leinwand. „Die Pariser Zeit war für van Gogh eine Periode der Experimente. In diesem Bild aber – unmittelbar vor der Abreise nach Arles – zeigt sich van Gogh selbst als Meister, als Maler, der sein Metier wirklich beherrscht, als Mensch, der wirklich weiß, wie er künftig zu malen hat.“

Van Gogh's Self Portraits from Paris. Rijksmuseum Vincent van Gogh, Amsterdam. Noch bis 9. Oktober 1994.

Ronald de Leeuw: The Van Gogh Museum – Paintings & Pastels. 270 Seiten mit mehr als 300 Farbabb. Waanders Uitgevers, Zwolle. Gebunden Dfl. 75,00. ISBN 90-6630-405-7