■ Fragen und Gedanken zu einem Fall offener Rachejustiz
: Verhelfen Sie Irmgard Möller zur Freiheit, Frau Justizministerin!

Die deutsche Justiz bleckt wieder ihre schwarzen Zähne, und das auch diesmal, wie immer, gegen links: sie verweigert der schwerkranken Irmgard Möller nach 22 Jahren Haft die Entlassung! Das Herz der inbrünstigen Verweigerung schlägt in der Brust des baden-württembergischen Justizministers Thomas Schäuble (CDU) wie auch der Staatsanwaltschaft Heidelberg. Beide nehmen die Weigerung Irmgard Möllers, sich einer „Gefährlichkeitsprognose“ zu unterziehen, zum Vorwand, dem Rachebedürfnis einer bestimmten Spezies deutscher Juristen nachzukommen.

Dazu paßt – wie die Faust aufs Auge – die Nachricht, daß Kurt Franz, einst Stellvertretender Kommandant des Vernichtungslagers Treblinka, aus „Alters- und Gesundheitsgründen“ aus der Haft entlassen worden sei, und zwar schon im Mai 1993. (Zur Information: Von allen NS-Todesfabriken war Treblinka die „effektivste“: eröffnet im Juni 1942 und durch Häftlingsaufstand im August 1943 zerstört, sind mit den Abgasen von Panzerdieselmotoren etwa 750.000 Menschen ermordet worden).

Was, darf man fragen, geht hier eigentlich vor sich? Welche verschiedenen juristischen Maßstäbe werden da angelegt?

Ich habe die NS-Prozesse vor bundesdeutschen Schwurgerichten seit ihrer Eröffnung im Jahre 1958 als politischer Publizist verfolgt und zahlreichen Verfahren beigewohnt. Die zähe Weigerung, Irmgard Möller zu entlassen, gerät in Gestalt des Autors an einen langjährigen Beobachter der deutschen Nachkriegsjustiz — und das wird ihr nicht gut bekommen. Denn angesichts so unterschiedlicher Behandlung drängen sich etliche Fragen auf, gerichtet an die Adresse jener Instanzen, die ihre Neigung für eine Haftentlassung Irmgard Möllers durchscheinen ließen – also an die Lübecker Strafkammer, das Kieler Justizressort, die Bundesanwaltschaft, vor allem aber an das Bundesministerium für Justiz, will sagen, Frau Leutheusser-Schnarrenberger.

Erstens: Kennen Sie auch nur einen einzigen Nazi-Mörder, der eine so lange Haftstrafe abzusitzen hatte wie Irmgard Möller? Zweitens, konkret und nur als ein Beispiel für Dutzende: Wissen Sie, daß die beiden wegen vielhundertfachen Mordes an Häftlingen des KZ Sachsenhausen Oranienburg im Februar 1959 von einem Bonner Schwurgericht zu lebenslanger Haftstrafe verurteilten ehemaligen SS-Aufseher Gustav Sorge (Der Eiserne Gustav) und Karl Schubert vorzeitig entlassen worden sind? Und haben Sie, drittens, noch in Erinnerung, daß selbst schwerstbelastete NS-Täter durchgehend auf eine Strafmilde stießen, die den Terroristen der RAF grundsätzlich versagt geblieben ist? Wenn nicht – ich kann nachhelfen.

Im Ulmer Prozeß gegen das „Einsatzkommando Tilsit“ (das in einem 25 Kilometer breiten Streifen des deutsch-litauischen Grenzgebietes im Sommer 1941 binnen weniger Tage alles jüdische Leben ausgelöscht hatte) wurde einem der Angeklagten bescheinigt, er sei „bemüht gewesen, bei der Erschießung die Form zu wahren“ (drei Jahre Haft für 526 Morde). Einem anderen wurde zugute gehalten, er mache nach einer schweren Jugend „einen etwas einfältigen Eindruck“ und sei „gefühlslabil“ (vier Jahre Haft für 423 Morde). Einem dritten Angeklagten wurde attestiert, er verfüge „nur über mäßige geistige Eigenschaften“ und sei „von weicher Veranlagung, die Minderwertigkeitskomplexe ausgelöst hätte“ (drei Jahre Haft für über 500 Morde an Juden). Ich konstatiere: Niemand, kein einziger der zu „lebenslänglich“ verurteilten NS-Täter hat je seine Strafe absitzen müssen, es sei denn, er wäre vorzeitig in Haft verstorben.

Aber weiter angesichts der justitiellen Unerbittlichkeit gegenüber Irmgard Möller.

Sind schon die untersten Glieder in der Kette des industriellen NS-Serien-, Massen- und Völkermords mit milden Strafen bedacht worden – die meisten ihrer Vorgesetzten, bis hinauf zu den großen Schreibtischtätern, den Organisatoren von Auschwitz und allem, was dieser Name symbolisiert und materialisiert –, sie sind überhaupt nie auch nur angeklagt, geschweige denn verurteilt worden! So Otto Bovensiepen, Chef der größten, der Gestapoleitstelle Berlin, unter anderem verantwortlich für die Deportation von 35.000 Juden aus der Reichshauptstadt – er wurde durch Krankheit rechtzeitig verhandlungsunfähig. So auch Werner Best, Reinhard Heydrichs Stellvertreter – wegen achttausendfachen Mordes angeklagt. Das Verfahren gegen ihn wurde ausgesetzt, da er sich „der Belastung eines Mammutprozesses gesundheitlich nicht gewachsen fühlte“. Seither verstaubten 800 Kilogramm Akten und eine tausendseitige Anklageschrift in den Justizarchiven der Freien und Hansestadt Hamburg.

Und so auch einer der größten Schlächter in der Menschheitsgeschichte überhaupt, Bruno Streckenbach – Personalchef im Reichssicherheitshauptamt Berlin und Organisator der vier sogenannten „Einsatzgruppen“, mobile Mordkommandos, die hinter dem Schild der deutschen Wehrmacht keine anderen Aufgaben hatten, als sowjetische Juden umzubringen. Ungeachtet der Anklage, „den Tod von mindestens einer Million Menschen verursacht zu haben“, starb Streckenbach 1977 in meiner Vaterstadt Hamburg, ohne je vor einem Gericht gestanden zu haben. Ich weise, quasi nebenbei, noch darauf hin, daß ungeachtet 32.000 aktenkundiger politischer Todesurteile kein einziger NS-Blutrichter, nicht einer dieser „furchtbaren Juristen“ je von einem deutschen Gericht rechtskräftig verurteilt worden ist. Aber Irmgard Möller soll auch nach über 250 Monaten Haft nicht entlassen werden...

Doch weiter.

Die deutsche Justiz ist bei der Strafzumessung gegenüber Linksterroristen grundsätzlich davon ausgegangen, daß bei ihren Anschlägen eine „durchgehende Handlungskette“ vorliegt. Bestraft wird also nicht nur, wer an der Ausführung eines Anschlags beteiligt war, sondern auch der, dessen Beteiligung allein in der Planung bestand.

Ganz anders dagegen bei NS- Tätern! Da wird ausschließlich nur der Angeklagte verurteilt, dem durch Zeugen eine direkte Mordtat nachgewiesen werden kann, sozusagen eine persönliche „Mehrleistung“ über die geforderte „normale“ Beteiligung hinaus. Wer von den KZ-Wach- und -Tötungsmannschaften am „ordnungsgemäßen Ablauf“ mitgewirkt hatte, dem passierte vor den Schwurgerichten der NS-Prozesse gar nichts! Erst wenn das Opfer auf dem Wege zur Gaskammer oder an den Rand der Hinrichtungsgrube totgeschlagen oder totgetreten worden war, erst wenn der Täter einer Mutter das Kind aus dem Arm gerissen und dessen Kopf am Boden oder an einer Mauer erschlagen hatte, erst dann sahen sich deutsche Richter genötigt, eine Verurteilung auszusprechen. Aber dies stets unter dem strafmildernden Schirm des „Befehlsnotstandes“ und der „Beihilfe zum Mord“. Dem professionellen „Endlöser“, der effizient und ohne Gefühlsaufwand am Tötungsablauf beteiligt war – ihm geschah gar nichts...

Also noch einmal, mit diesem Hintergrund: Was geht hier vor, in unserer Epoche? Wird eine neue Generation von Richtern die alte Tradition ungleicher Täterbehandlung fortsetzen? Künden davon nicht schon wieder die gerichtlichen Samthandschuhe, mit denen die rechten Gewalttäter angefaßt werden, während sich die gleiche Justiz hartleibig zeigen will gegenüber einer Frau mit der Dauerstrafe von Galeerenhäftlingen aus vergangenen Jahrhunderten?

Ich plädiere mit keinem Wort, mit keiner Silbe für die Terroristen der RAF, eingeschlossen die Taten, derentwegen Irmgard Möller verurteilt worden ist. Welche begreifbare Kritik an der Gesellschaft auch immer die Initialzündung für den Ursprung der RAF-Revolte vor dreißig Jahren gewesen sein mag, ihr mörderischer Fehlschluß machte sie zu gefährlichen Kriminellen, denen heute nichts bleibt als der Zwang zur Umkehr, das Eingeständnis ihres vollständigen politischen und moralischen Bankrotts auf einem mit Leichen sinnlos gepflasterten Weg. Aber hier, in diesem Fall, ist es längst genug, ist es übergenug.

Deshalb: Verhelfen Sie, Frau Justizministerin, Irmgard Möller zur Freiheit – endlich. Ralph Giordano

Publizist und Autor, lebt in Köln