Sohn oder Tochter? Ist's Glück oder Bürde?

■ Indiens Zentralregierung verbietet die vorgeburtliche Geschlechtsbestimmung

Berlin (taz) – Anfang August hat Indiens Zentralregierung medizinische Untersuchungen gesetzlich verboten, die darauf abzielen, das Geschlecht des Embryos vorzubestimmen. Das Verbot soll die weitverbreitete Praxis der Abtreibung weiblicher Föten bekämpfen.

„Ein Mädchen großzuziehen ist etwa so, als würde man die Pflanzen im Garten seiner Nachbarn gießen“, heißt ein Sprichwort im Bundesstaat Andhra Pradesh. Es sind Söhne, die zählen. Sie sind es, die erben, und nur die Söhne garantieren den Fortbestand der Familie. Frauen dienen lediglich als eine Art Vehikel, den Fortbestand der männlichen Erbfolge zu sichern. Mythen und Legenden, die großen indischen Volksepen, sie alle stärken das Bild der Frau, deren Erlösung und Heil im klaglosen Leiden und Hinnehmen liegt.

In einer Gesellschaft, in der Mädchen aufgrund der – zwar gesetzlich verbotenen, aber nach wie vor praktizierten – Mitgiftforderungen oftmals als Kostenfaktor angesehen werden, geben viele Eltern nur ungern Geld für eine Tochter aus, denn das Mädchen wird sie verlassen und zur Familie ihres zukünftigen Ehemannes ziehen, während ein Sohn später für die Eltern sorgen kann.

SDT, sex determination test, heißt die Zauberformel für die Eltern, die bereits vor der Geburt durch Fruchtwasser- und Ultraschalluntersuchungen das Geschlecht des Embryos wissen wollen. Ist es ein Mädchen, wird der Fötus abgetrieben. „Lieber ein paar tausend Rupien für Test und Abtreibung ausgeben als später mehrere zehntausend für die Verheiratung der Tochter hinblättern müssen“, sagen sich viele Paare. War eine Fruchtwasseruntersuchung bis vor kurzem noch „Privileg“ der Mittelklasse, so wird die Chance zur vorgeburtlichen Geschlechtsbestimmung mittlerweile auch von den unteren gesellschaftlichen Schichten praktiziert. Wenn kein Geld aufgetrieben werden kann, bleibt für viele nur noch die Tötung eines weiblichen Säuglings nach der Geburt, Infantizid genannt. Diese Praktik hält sich bis heute vor allem in den Bundesstaaten Tamil Nadu, Uttar Pradesh, Bihar, Rajasthan, im Punjab oder in Kashmir. Getrieben von panischer Angst vor den immer höher werdenden Mitgiftforderungen bei der Verheiratung einer Tochter und vom uralten Glauben daran, daß weibliche Wesen Unglück bringen, töten Eltern ihre Töchter kurz nach der Geburt. Sie töten, um den Rest der Familie, besonders aber die Söhne, vor weiterer Verelendung zu schützen.

Die staatliche Familienplanungspolitik der letzten Jahrzehnte hat die Probleme nicht gerade gelöst und zum Schutz von Mädchen beigetragen. Der Slogan: „Zwei Kinder sind genug“, der suggerieren soll, daß kleine Familien automatisch auch Glück und Wohlstand bringen, geht gerade an denen vorbei, die die meisten Kinder bekommen: an den Ärmsten der Armen. Gerade sie sind es, die Kinder brauchen, weil diese bereits sehr früh mitarbeiten und dadurch zum Familieneinkommen beitragen können. Gegenüber ihren Brüdern sind Mädchen stark benachteiligt: Ein Junge wird meist länger gestillt, er erhält gesündere Nahrung und bessere Zuwendung im Krankheitsfall. Von den etwa zwölf Millionen Mädchen, die jährlich in Indien geboren werden, erleben über zehn Prozent nicht einmal ihren ersten Geburtstag, und weitere 850.000 sterben, bevor sie das fünfte Lebensjahr erreicht haben. Die Kindersterblichkeitsrate bis zum vierten Lebensjahr liegt bei Mädchen um etwa fünf Prozent höher als bei ihren männlichen Altersgenossen. Schon vor der Entscheidung der Zentralregierung gab es ähnliche Verbote bereits in einigen Bundesstaaten wie Maharasthra, wo ein ähnliches Gesetz seit 1988 gilt, im Punjab, Gujarat und Haryana, die den Test zur vorgeburtlichen Geschlechtsbestimmung und eine anschließende Abtreibung unter Strafe stellten. Das indische Nachrichtenmagazin Sunday meint, die Erfahrung aus diesen Bundesstaaten habe gezeigt, daß nach wie vor abgetrieben werde. Das Ganze werde gegebenenfalls in den Untergrund abgedrängt. Als ein Resultat solcher Praktiken bleibt festzuhalten: Indien ist eines der wenigen Länder, in denen mehr Männer als Frauen leben. Nach der letzten Volkszählung kommen auf 1.000 Männer im Landesdurchschnitt nur 929 Frauen. In einigen Bundesstaaten fällt dieses Verhältnis noch schlechter aus. Am drastischsten sieht es bei der Kastengruppe der Bhatis im Bundesstaat Rajasthan aus: Dort kommen auf 1.000 Männer nur 550 Frauen. Walter Keller

Vor der Weltbevölkerungskonferenz im September veröffentlicht die taz Beiträge zum Thema Familienplanung, Frauenrechte, Migration. Bisher erschienen: Tagesthema am 5.7.: „Sandwich am runden Tisch“; Kommentar am 26.7.: „Die Kluft zwischen Arm und Reich muß jetzt verringert werden“; Wissenschaft am 1.8.: Verhütungsmittel