Türsteher Türkei

Die Europäische Kommission will die lange versprochene Zollunion wegen wirtschaftlicher und politischer Gründe verweigern  ■ Aus Brüssel Alois Berger

Der Europäischen Union wird der türkische Boden zu heiß. Die Kommission in Brüssel, zuständig für die Vorbereitung und die Umsetzung von Beschlüssen des Ministerrats, drängt plötzlich darauf, die für den 1. Januar 1995 geplante Zollunion mit der Türkei zu verschieben. Die Türkei, argumentiert die Kommission in einer vertraulichen Studie, sei weder wirtschaftlich noch politisch reif für diesen Schritt, der einer Eingliederung in den Europäischen Wirtschaftsraum EWR nahekommt.

Als neues Datum faßt die Kommission Anfang 1996 ins Auge. Den zwölf Regierungen der Europäischen Union, die im Ministerrat die Entscheidung darüber zu treffen haben, empfiehlt der zuständige Kommissar Sir Leon Brittan in dem geheimen Papier, weitere Notbremsen einzubauen, um die Zollunion notfalls auch kurz vor einem Inkrafttreten 1996 noch stoppen zu können.

Noch im November letzten Jahres hatte der Assoziationsrat aus Vertretern der EU und der Türkei bestätigt, daß der Zeitplan eingehalten werde. Doch inzwischen, so die Kommission heute, hätten sich neue Fakten ergeben. Danach hat die öffentliche Ausgaben- und Inflationspolitik der Koalitionsregierung im Vorfeld der Märzwahlen die wirtschaftlichen Gleichgewichte empfindlich gestört. Die neue Regierung unter Tansu Çiller habe zwar unter der Aufsicht des Internationalen Währungsfonds beachtliche Reformschritte eingeleitet, doch die schweren Fehler der Vorgängerregierung hätten die Zahlungsbilanz beschädigt und den Zeitplan für die Anpassung an EU-Bedingungen gestört.

Während die Kommission bei den wirtschaftlichen Problemen einen Ansatz zur Besserung sieht, geht ihrer Ansicht nach die Verschlechterung des politischen Klimas weiter. Die Regierung von Tansu Çiller sei in der Bevölkerung zunehmend umstritten. Der Bericht macht dafür den Krieg der türkischen Regierung gegen die Kurden verantwortlich, diplomatisch verklausuliert als „militärisches Vorgehen in Süd-Ost-Anatolien“ und im Gegenzug auch die Anschläge der PKK, die bereits bis „ins Herz von Istanbul“ reichten. Besonders schwerwiegend sei auch die Verhaftung der kurdischen Abgeordneten, denen der Prozeß wegen Landesverrates gemacht wird. Der Prozeß habe sehr negative Auswirkungen auf die öffentliche Meinung in Europa. Ausdrücklich weist die Kommission auf die Proteste von Europaparlamentariern hin.

Beunruhigend, so die Kommission weiter, sei zudem das Anwachsen der islamisch-fundamentalistischen Parteien in der Türkei, die bei den letzten Wahlen fast 20 Prozent der Stimmen bekommen haben. Auch wenn die Gefahren geringer seien als in anderen Mittelmeerländern, so zeigten sie doch „die relative Unfähigkeit des türkischen Modells, auf die Erwartungen der Landbevölkerung und der benachteiligten Schichten an den Rändern der Metropolen zu antworten, denen das wirtschaftliche Wachstum des Landes nicht wirklich nützt“.

Der Bericht, der von den 17 Kommissaren am 13. Juli angenommen und damit zur Meinung der Europäischen Kommission erhoben wurde, empfiehlt deshalb, vor dem Abbau der gegenseitigen Handelsschranken erst einmal abzuwarten. Eine Haltung, die nicht ganz neu ist. Bereits vor 25 Jahren wurde der 1. Januar 1995 als Beginn der Zollunion festgelegt. Das Angebot der Zollunion war im Grunde die hinhaltende Antwort Brüssels auf das Drängen der Türkei auf einen Beitritt zur EG. Die Türkei, seit 1952 Nato-Mitglied und strategisch wichtiger Partner der westlichen Länder, wollte nicht nur Türsteher Europas sein. Die damals festgesetzte lange Übergangszeit entsprach dem Grad der Begeisterung in den Regierungen der EG-Staaten über die Annäherung der Türkei.