Chronik einer Bedrohung

23.9. 1993: Die „Soldaten des Islam“, eine islamistische Splittergruppe aus der Stadt Sylhet, setzen eine Belohnung von 1.250 US-Dollar für die Ermordung der feministischen Schriftstellerin Taslima Nasrin aus und fordern die Regierung auf, Nasrin zu verhaften und zu exekutieren. In ihren Romanen und Schriften hatte Nasrin ein ums andere Mal die frauenfeindliche Koran-Auslegung in Bangladesch kritisiert. Ihr letzter Roman „Lajja“ (Schande) beschrieb, wie muslimische Männer aus Rache für die Zerstörung einer Moschee hinduistische Frauen vergewaltigen.

28.5. 1994: Taslima Nasrin kehrt von einer Lesereise durch Frankreich und Indien nach Bangladesch zurück. Dort demonstrieren mehrere tausend Muslime gegen Nasrin und überfallen Buchhandlungen, die Werke der Autorin in der Auslage haben. Sie werfen Nasrin vor, in einem Interview mit der indischen Zeitschrift The Statesman den Koran kritisiert zu haben. Die Schriftstellerin erklärt dagegen, sie habe keine Änderung des Koran, sondern der Scharia – des islamischen Rechtes – zugunsten von Frauen gefordert. Rechte und islamistische Gruppen greifen den Fall auf, um die Regierung zu zwingen, ein schärferes Blasphemiegesetz ähnlich wie in Pakistan zu verabschieden, wo Gotteslästerung unter Todesstrafe steht.

4.6. 1994: Die Regierung gibt dem wachsenden Druck der Islamisten nach und beantragt Haftbefehl gegen Taslima Nasrin wegen der „Verletzung religiöser Gefühle der Muslime“. Bei einem Schuldspruch drohen der Schriftstellerin bis zu zwei Jahre Arbeitslager. Nasrin taucht unter.

25./26.6. 1994: Nach Berichten in Bangladesch erscheinender Zeitungen hat sich Taslima Nasrin mit der Bitte um Unterstützung bei einer Ausreise an den Internationalen PEN-Club gewandt. Seit Wochen kommt es bei Demonstrationen für oder gegen Taslima Nasrin zu teilweise schweren Ausschreitungen. Die Medien und die liberale Öffentlichkeit fordern von der Regierung, den immer noch überwiegend säkularen Charakter des Staates zu erhalten.

30.6. 1994: Bei Demonstrationen gegen Taslima Nasrin wird ein Mensch getötet, 160 werden verletzt. Aufgerufen hatten islamische Geistliche. Sie forderten „die öffentliche Hinrichtung Nasrins, um ein Exempel für alle zu statuieren, die es wagen, den Islam zu verunglimpfen“.

1.7. 1994: Aus ihrem Versteck schickt Taslima Nasrin einen Hilferuf an eine Gruppe französischer Feministinnen. Sie schreibt: „Ich bin in großer Gefahr. Die Fundamentalisten können mich jederzeit töten. Bitte rettet mich.“

8.7. 1994: Die Regierung von Bangladesch sucht Nasrin bei ausländischen Diplomaten. Wer Nasrin Zuflucht gewähre, würde unmittelbar zur Persona non grata erklärt, heißt es in Dhaka. Im Verdacht stehen Diplomaten aus Norwegen, Frankreich und den Niederlanden.

16.7. 1994: In einem offenen Brief in der taz fordert der Schriftsteller Martin Walser den Bundesaußenminister auf, Nasrin Asyl in der Bundesrepublik anzubieten.

18.7. 1994: Die Außenminister der Europäischen Union appellieren an die Regierung von Bangladesch, „alle notwendigen Maßnahmen zum Schutz von Frau Nasrin zu ergreifen und ihr zu gestatten, das Land zu verlassen“.

19.7. 1994: Bundesaußenminister Klaus Kinkel bietet Taslima Nasrin die Einreise in die Bundesrepublik an.

21.7. 1994: In Dhaka protestieren 50 KünstlerInnen und WissenschaftlerInnen gegen Fundamentalisten und fordern Schutz für die Freiheit des Geistes.

29.7.1994: In Dhaka demonstrieren etwa 25.000 Islamisten gegen Taslima Nasrin und fordern ihren Tod.

30.7. 1994: In mehreren Städten Bangladeschs finden Demonstrationen gegen den Einfluß der Islamisten und für Taslima Nasrin statt. Die oppositionelle Awami-Liga und mehrere Studentenorganisationen hatten zum Generalstreik aufgerufen. Bei Straßenschlachten zwischen islamistischen Demonstranten und Gegnern werden mindestens 100 Menschen verletzt. Unterdessen berichtet die regierungsnahe Zeitung Dainik Bangla, Nasrin müsse in jedem Fall mit einer Verurteilung rechnen, auch in Abwesenheit.

3.8. 1994: Taslima Nasrin verläßt ihr Versteck und stellt sich in Begleitung ihrer Anwälte dem Obersten Gericht in Dhaka. Sie beantragt die Aussetzung des Haftbefehls gegen Kaution, was ihr sofort gewährt wird. Taslima Nasrin genießt nach offiziellen Angaben volle Bewegungsfreiheit, was auch Reisen ins Ausland einschließt.

4.8. 1994: Der Prozeßbeginn wird auf frühestens Anfang September verschoben. Das Gericht hat es Taslima Nasrin freigestellt, ob sie persönlich erscheinen oder sich von ihren Anwälten vertreten lassen will.

10.8. 1994: Taslima Nasrin hat Bangladesch verlassen und trifft nach stundenlangen Spekulationen über ihr Reiseziel in Stockholm ein.