Hunderttausend Kachelöfen für Berlin

Der Stoff, aus dem Berlin gemacht ist – eine taz-Reihe (Teil 2) / Der Ton kehrt als Museum in die „Ofenstadt Velten“ zurück / Die erste Ofenfabrik wurde 1835 gegründet  ■ Von Rolf Lautenschläger

Für Rolf Schmidt, Geschäftsführer der 1872 gegründeten Ofenfabrik A. Schmidt, Lehmann & Co. in Velten, gibt es keine Existenzängste: „Ein Kachelofen läßt sich auch mit Atomenergie heizen“, meint er mit einem Schmunzeln auf den Lippen. Obwohl das 1992 reprivatisierte Familienunternehmen verstärkt mit Tellern, Tassen, Gartenzwergen und Tontieren auf den Markt drängt, glaubt Schmidt an das Weiterleben des Wärmemöbels für wohltemperierte Wohnungen – trotz gasbetriebener Fernheizsysteme. Der große Berliner Ofen mit seiner weißen Keramik „hat nach wie vor seine Berechtigung gerade in Berlin, wo sich der überwiegende Teil der Bevölkerung an den Ofenkacheln aus Velten erwärmt“.

Der Baustoff Ton aus der Mark Brandenburg, seine Verarbeitungstechniken zu kunstvollen Ofenkacheln und glasierten Steinen, zu Reliefs und Platten kommt in Schmidts alter Fabrik im 25 Kilometer nordwestlich von Berlin gelegenen Velten wieder zu seinem legendären Ruhm: als formbare Masse, in handwerklich-frühindustrieller Produktion und als kunstvoll gebrannte Keramik. Die Schmidtschen Werkstätten, halb Arbeitsort, halb Museum, sind mit kalkweißem Ton bestäubt, der erst mit Wasser aufgeweicht und in Schlämmbecken gereinigt wird. Ihre Gestalt erhalten die Kacheln durch Gieß- und Preßverfahren in vorgefertigten Formen, die nach dem Trocknen abgestreift werden. Schließlich wandert die Kachel in den Brennofen – ein zugemauerter Feuerraum oder ein elektrisch glühender Backofen – wo sie nach stundenlanger Brennzeit und Abkühlung steinern herauskommt. In der Ofenfabrik stapeln sich auf Brettern und Regalen die Kacheln zu Tausenden in Reih und Glied, für eine massenweise Verarbeitung in der alten und neuen Hauptstadt, die ihre Öfen mit Steinkohle befeuert und die keramische Dingwelt zur Sanierung notwendig hat.

Das Dorf Velten im Sumpfland war mit Ton aus der Mark Brandenburg für die Lage entschädigt worden. In den Pötterbergen lagerte der Rohstoff, dessen Qualität sich besonders eignete, hohe Temperaturunterschiede schadlos zu überstehen. Anfang des vorigen Jahrhunderts versetzte der Stoff die Bauern in Goldgräberstimmung. Velten wuchs proportional zum Wachstum der preußischen Metropole. Lebten in der Havelgemeinde Mitte der 30er Jahre des 19. Jahrhunderts 350 Bewohner, so kletterte die Einwohnerzahl mit der Industrialisierung in den 60er Jahren sprunghaft. In den Jahren nach der Gründung der ersten Ofenfabrik 1835 explodierte die Zahl der Unternehmen: 1860 gab es 12 Betriebe, 45 Jahre später waren es dreimal soviel. 1905 war Velten auf dem Höhepunkt seines Produktionsumfangs. 100.000 Kachelöfen verlangte die Hauptstadt des Kaiserreichs, die zwischen 1871 und 1900 von 900.000 auf 2,7 Millionen Einwohner gewachsen war, sich im Inneren zum steinernen Berlin verdichtete und an der Peripherie ständig ausdehnte.

Der kalkige Staub bedeckte die kleine Stadt mit einem weißen Schleier. Die Veltener Fabrikanten knechteten die ungelernten Arbeiter und strebten gleichzeitig nach Höherem. Im wirtschaftlichen Zenit der Ofenproduktion träumte der Amtsvorsteher Aurel Ziegler von dem Projekt einer Wohn- und Arbeitsstadt für 600.000 Menschen. Eine Reformstadt am Rande der Metropole sollte es werden mit einer neuen Gewerbestruktur, Eisenbahnanschlüssen, Schiffahrtswegen, S-Bahn-Trassen. Anfang der 20er Jahre erwarb die eigens dafür gegründete Wohnungsbaugesellschaft Land. Zum Bau von „Klein Amerika“, wie der Volksmund das Megaprojekt nannte, sollte es nicht kommen, weil 1925 das Geld fehlte und 1933 die Nazis den Sozialutopisten Ziegler aus seinem Amt vertrieben.

So rasant wie der Industriestandort Velten entstanden war, so dramatisch folgte der Untergang zwischen den Weltkriegen. „Dem Vorreiter bei der Bezähmung des offenen Feuers“, schrieb Christoph Stölzl einmal, „liefen neue Energien den Rang ab.“ Der Brennstoff entmaterialisierte sich. Fernwärmesysteme beheizten die neuen Großsiedlungen.

Es ist heute mehr von der „Ofenstadt Velten“ geblieben als die beiden letzten Fabrikationsanlagen – Restposten in dunklem Backstein. Ein regelmäßiges, fast rationales Muster aus Straßen und Wegen durchzieht den Ort. Ein überdimensionaler Bahnhof für den Gütertransport und ein geschlossener S-Bahnhof erinnern an die großen Zeiten. Geblieben ist auch das Museum, das sich die Ofenväter 1905 zur Glorifizierung ihrer überwältigenden Produktivität und zur Darstellung der Musterblätter und Keramiken eingerichtet hatten. Nachdem die Sammlung nach dem Zweiten Weltkrieg ausgelagert wurde und später ins Zeughaus überwechselte, befindet sie sich jetzt wieder an ihrem Ursprungsort; im Dachgeschoß der Schmidtschen Fabrik, die quasi als „lebendiges Museum“ fungiert. Die Sammlung spielt dort die Rolle der Erinnerung wie die Ofenfabrik selbst, deren Zukunft weniger in atomar betriebenen Kachelöfen als vielmehr in der Herstellung von Baukeramiken und hübsch geformtem Geschirr liegen wird.