Weltsprache der Leere

Die strahlende Kathedrale als Imago der heilen Welt: Kam die Moderne nur bis Köln? Notizen einer Reise zur zeitgenössischen Kunst  ■ Von Susanne Deicher

Stella Maris, im Frühjahr. In Köln angekommen mit dem Intercity Paula Modersohn-Becker. Wie immer erstaunt die große Glasfläche der Bahnhofsfront, die wenig mehr tut, als den Blick auf den Dom freizugeben, unter Verzicht auf den Versuch, selbst Architektur zu sein. Darin erweist sie sich als Monument der 50er Jahre: das Ideal des Modernen als Rückzug, Negation und Aufhebung der eigenen Person im Spiel der spiegelnden leeren Flächen. Hier, am Dom zwischen dem Steakhouse, der Pizzeria, der Anzeigetafel, war Abstraktion nie Weltsprache. Welt allerdings sehr wohl, die Welt der ewig Abfahrenden und Ankommenden, Ununterscheidbaren, Flüchtigen will in der Glasfront aufscheinen und ihr so das Verschwinden als Sinn mitgeben.

Ginge es nach den Kunsthistorikern, wäre dieser Bahnhof nicht da. Günter Bandmann hat 1948 den Vorschlag gemacht, den Hauptbahnhof abzureißen, um so die mittelalterliche Situation, den Dom auf dem Hügel über dem Fluß, wiederzugewinnen. Die zerstörte Stadt sollte damit auch die unmittelbare Vergangenheit vergessen, die Leere ihres Raums als positive Errungenschaft feiern, sich aber nicht als Wunde preisgeben: Die strahlende Kathedrale als Imago der wieder heilen Welt, um den Preis des radikalen Verschwindens all dessen, was auch nur irgendwie an die Moderne erinnern könnte. Die antimoderne Tendenz der Kunstgeschichte bewährte sich nach 1945 erneut in dem permanenten Versuch, Sinnverlust zu negieren und das Abstrakte, auch das gesellschaftlich Sinnlose, mit Bedeutung zu versehen.

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Bei Daniel Buchholz in Köln. Er zeigt mir Dias von einer Arbeit der Chicagoer Künstlergruppe HAHA, die diese 1991 in der Galerie realisiert hatte. Auf einem langen Tisch werden die Seiten aufgeschlagener Telefonbücher vom Wind eines Ventilators bewegt. Was sichtbar wird, ist immer Gleiches: die austauschbaren Nummern der Großstadtbewohner. Die auf den ersten Blick unsinnige Anordnung gewinnt den Fluchtpunkt ihres Sinns im Verschwinden der Person. Ohne Zweifel ist der Traum des sich Vergessens hysterischer Natur. Am Ende nähern sich die Telefonbücher der Heiligen Schrift: deus absconditus, der, wer wüßte es zu sagen, vielleicht gar nicht ist. Nie stand die traditionsreiche Metapher der Welt als Buch ferner – und doch ist klar, daß der ästhetische Gewinn dieser Installation nicht zuletzt im Zerstieben dieses Bilds im Wind besteht.

Die unterschiedlichen Weisen, die Leere zum eigenen Instrument zu machen, sind wie verschiedene psychologische Reaktionen auf das Trauma eines Verlusts von Sinn. Dieses Trauma ist der Moderne ganz allgemein zu eigen, steht am Anfang ihrer Geschichte und motiviert ihr Unternehmen, wie einst der Verlust der heiligen Stadt die Kreuzzüge in Gang setzte. In der bildenden Kunst war das Abstraktwerden die Katastrophe, der unaufhaltsame Verlust des Zugriffs auf gesellschaftliche Realität. Manche reagierten auf die Krise, indem sie das heilige Jerusalem im Geiste ausriefen. Caspar David Friedrichs Dome in den Wolken, Viollet-le-Ducs reparierte Kathedralen und schließlich der Mittelalterersatz Günter Bandmanns als historisches Postkartenmotiv. Das Dünne, Abgeschmackte dieser Bilder, ihr offenbarer Kitschcharakter störte nicht. Der Wahn, die eigene Machtlosigkeit im Zeichen abwehren zu können, steht jener Hysterie, der Angst angesichts der realen Leere, gegenüber – Scylla und Charybdis der Moderne, zwischen denen kein Odysseus mehr den Weg findet.

Und doch ist die Reisende aus der Welt der Mythen der Ursprünge eine Figur, die ich inmitten der Kunstwelten antreffe. Die Waliser Künstlerin Bethan Huws wird von der Galerie Luis Campana vertreten. Wie Verkäufer im Juwelierladen ziehen die Angestellten der Galerie Schachteln aus den Schubladen, auf denen „Achtung“ und „Vorsicht. Kostbar“ zu lesen steht. Auf den feinen rosa Wattepolstern liegen winzige Schiffe aus Gras. Das nach dem Binden getrocknete Gras spannt sich zu feinen Bögen, wie einst wohl die Bordwände keltischer Boote. Die segellosen, zartbemasteten Schiffe liegen in Gruppen im kartonenen Hafen. Das Märchen vom armen Zinnsoldaten ist die Sekundärliteratur, die hier die einzig angemessene scheint. Die Verlorenheit gesellt sich zur Idee endloser Weite eines grünen Meeres jenseits der Städte, vor aller geschichtlichen Zeit. Das mythische Bild schlägt in seiner Qualitätslosigkeit um ins Abstrakte. „If you could imagine something formless, vast and uncontrollable, you would think of the sea“, schreibt Bethan Huws.

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Im Hotel, in der ersten Frühlingshitze. Wie in einem Kamin sammeln sich im Zimmer die Abgase der sechsspurigen Straße vor dem Fenster. Mutlos dunkeln die gerahmten Idyllen Chagalls dagegen an, die das Zimmer nebst Blumengardinen schmücken. Moderne Kunst und die verlorene jüdische Identität im nachrevolutionären Rußland, gingen sie nicht bereits bei diesem Künstler eine poetische Synthese ein? Modernität als Unternehmen von Gruppen, deren Verlorenheit sie zur Kunst qualifiziert: nicht anders funktioniert heute die Kunst der Aids-Gruppen in den städtischen Milieus. Legitimität gewinnt solche Kunst nicht aus ihrem Anliegen, sondern aus der Attraktion, die ein mitfühlendes, träumerisches Gemüt aus ihr gewinnen kann.

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Mit Roland in der Rosebud Bar. Auch er ist ein Seefahrer, spricht vom Plan einer Australienreise und vom Schreiben. Von den Büchern Bruce Chatwins und seinen eigenen, wachsenden Werken. Im hereindunkelnden Köln ist vom Rekurs des Schreibens auf sich selbst die Rede – als Index des Ausfalls von Kommunikation, der Kälte. Gegen sie spricht alles Gegenwärtige. Mir scheint es jetzt, daß die imaginären Reisen auf dem Meere und im Lande der Kunst auch Substitute individuell vergangener Erfahrung sind, Monumente und Versteinerungen eines Ursprungs, der sich in Wahrheit nicht festhalten läßt. So vergeht der Abend.

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Colonia Agrippina, am folgenden Morgen. Im Innenhof des Benedikt Taschen Verlags zu Köln. Kleine Bäumchen, weißgepflasterte Straßen, ein ländliches Idyll: Fuggers Augsburger Imperium stand Pate, der pater familias und die Schar seiner fleißig werkenden Angestellten. Das Wissen über die Kunst, das hier vorhanden ist, ist in Typus und spezifischem Umfang beispiellos. Etwa daß Kunstbücher mit blauen Umschlägen am meisten gekauft werden. Mondrians Bild des Apfelbaums mit Verlagsschriftzug: Konzept-art, die an Wert und Bedeutung reiche Frucht trägt.

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Bei Hans-Peter Feldmann in Düsseldorf. Den Interessen auszuweichen, die die Errichtung von Wertzeichen leiten, war seit je sein Metier. Sein Ideal: 14 Tage unerkannt Taxifahren als Kunstaktion. Keiner weiß davon, keiner sieht diese Kunst. Der Künstler befindet sich stets in Bewegung, schwebt auf den Flügeln seiner eigensten Reflexion. Im Zentrum der Aktion: die leere Mitte, die bedeutungsfreie Qualität der Straßen Düsseldorfs, von denen er schwärmt. Statt der Bedeutung der Schrift das uneinholbare Bild.