Nacktheit als Bekleidungsform

Der Soziologe im Freibad erschaute geflügelte Knaben, Ritter, Burgfräuleins und höchste Sittlichkeit  ■ Von Michael Rutschky

Neuigkeiten. Die kleinsten Jungs, das war schon in den vergangenen Jahren zu beobachten, lieben die größten Buxen. Die Hosenbeine reichen als weite Röhren bis übers Knie. Man springt damit ins Wasser, woraufhin die nasse Röhre knittrig an dem spillrigen Jungsbein klebt. Nun ja.

Zum ersten Mal sehe ich in diesem Sommer, daß man in dem entsprechenden Jungskader die Hosentaschen nach außen zu stülpen hat, so daß sie rechts und links knapp unterhalb der Hüfte wie schlappe Flügelchen herabhängen.

Einem mythologisch gebildeten Freund fiel dazu der griechische Gott Hermes ein, dem solche Flügelchen an den Fersen wachsen. Sie wären weiter nach oben verlegt. – Eine psychoanalytisch gebildete Freundin schüttelt den Kopf. Offensichtlich gehe es um die Verdreifachung dessen (und schon die Dreizahl sei männlich, laut Freud), was mit seinem energischen Eigenleben dem Knaben und Jüngling so heftig zu schaffen mache, das männliche Genitale.

In den weiten Röhrenhosen zeichnet es sich nicht ab; überhaupt gibt sein Umfang dem Jüngling schwer zu denken. Also braucht er eine Ersatzrepräsentanz, gleich zweimal. Vielleicht kehrt in dieser Generation die demonstrative Schamkapsel wieder, auch Braguette genannt, in welcher der Mann der Renaissance sein Geschlechtsteil vor sich hertrug; das hätten die feministischen Kader zu verantworten, die so scharf an der Unterscheidung der Geschlechter arbeiten. Ein Erfolg bei den Männern, der diesen Kadern mißfallen wird...

Im übrigen rechnet zu den Neuigkeiten dieses Sommers, daß nicht nur bei den Frauen der einteilige Badeanzug – statt des Bikinis – häufig zu sehen ist, sondern auch bei den Männern. Immer noch selten genug; aber daß dieses Kleidungsstück von stets schwarzer Farbe, das in meiner Kindheit gewisse furchtsame, auch stark dickbäuchige Onkels zum Baden anlegten (während die Jungs auf die immer knapper werdenden Dreiecksbadehosen so stolz waren), mit dieser Wiederkehr des Schamhaften hätte ich nie gerechnet. Heute tragen freilich statt dickbäuchiger Onkels stark modebewußte junge Männer den schwarzen Einteiler.

Wenn man den Oberkörper bräunen will, das gilt für den männlichen wie für den weiblichen Menschen, streift man die Träger von den Schultern und das Oberteil insgesamt bis auf Nabelhöhe herab.

Was den weiblichen Menschen angeht, muß zu den Neuigkeiten außerdem gerechnet werden, daß „topless“, wie es in den Sechzigern hieß, „oben ohne“ immer noch keine allgemeine Regel geworden ist. Manche Frauen, gewiß, tragen die ganze Zeit nur eine Badehose. Andere sonnen sich zwar mit entblößten Brüsten, legen aber, wenn sie schwimmen – sozusagen von der Muße zur Arbeit – gehen, ein Oberteil an, sei's der Bikini, sei's der Einteiler, dessen Träger sie wieder überstreifen. Und dann sind viele Frauen zu sehen, die ihre Brüste unveränderlich verhüllt halten.

Dies ist keine Altersfrage. Topless Omas wurden ebenso gesichtet wie züchtige Teenager.

Nicht als Neuigkeit vermelden können wir, was aus der Werbung in den Print- wie den elektronischen Bildmedien eine Zeitlang unabweisbar schien, daß bei den weiblichen Menschen der üppige Busen wiederkehre. Offenbar sind dies langfristige physische Veränderungen – wie die allgemeine Zunahme der Körpergröße, die Abnahme des Unter- und Oberkieferumfangs –, die von der Mode unbeeinflußt bleiben.

Die Ausländer. Um wieder bei den Kids zu beginnen: Man sieht viele Freundes- und Freundinnenpaare in Schwarzweiß, und man kann sich ausmalen, wie stolz der oder die hellhäutige Einheimische auf den dunklen Freund, die dunkle Freundin ist und umgekehrt. Ein Anblick, der dem Humanisten wohltut. Welcher Kaukasier mit zehn, träumt er, oder zwölf oder vierzehn diese intensiven Freundschaftsgefühle für ein dunkelhäutiges Gegenüber gehegt hat, dem muß der einfache, an der Hautfarbe ansetzende Rassismus lebenslang verschlossen sein. Die versöhnte Menschheit, dargestellt im Freibad durch weiß- und dunkelhäutige Kids, die Freundschaft verbindet und der Stolz darauf, daß sie dergestalt die versöhnte Menschheit darstellen dürfen.

Wenn dunkelhäutige Menschen in der Nähe sind, schwinden alle anderen Unterscheidungsmerkmale, die jungen Türken männlichen oder weiblichen Geschlechts, die längst von den Freuden des Freibads ungehemmt Gebrauch machen, werden geradezu unsichtbar.

Dabei kommt es mir so vor, als ob sie, der deutschen Gesellschaft eingelagert, aber noch nicht integriert, die Gesellungsformen der Jugend, die ich aus dem Freibad der Fünfziger kenne, ein wenig klarer gezeichnet und ausgeprägt vorzeigen als die Einheimischen.

Die sittig miteinander plaudernden Burgfräuleins in üppiger Lockenpracht. Die Herren Ritter, die durch komplizierte Grußpflichten verbunden sind. Man schmettert, als wolle man dem anderen eine Ohrfeige verpassen, die geöffnete Handfläche in die des Genossen, die statt seiner Wange zur Stelle ist. Gern stehen sie mit spielenden Muskeln am Beckenrand und beratschlagen tiefernst die Belange des Reichs, welche Loyalität der freie Ritter dem Kaiser schuldet, wann er die eigene Souveränität, koste es was es wolle, zu verteidigen hat. So kenne ich es, wie gesagt, aus den Fünfzigern, die Ritter hießen statt Örhan oder Rüstem Pit oder Bicko, und jetzt kommt es mir so vor, als halte der mittelmeerische Machismo respektive das mittelmeerische Damenprogramm die gleichaltrigen Einheimischen von diesen Gesellungsformen der Jugend ab. Ohnedies sind sie überzeugt, daß man von der Geschlechterdifferenz weniger hermachen und also auf das Burgfräulein- bzw. Rittertum verzichten sollte.

Jenseits des dunkelhäutigen und des mittelmeerischen, die vertraut sind, tritt zuweilen ein wirklich fremdes Fleisch in Erscheinung, das zu lesen unmöglich ist, weil die Differenz unbestimmbar bleibt. Neulich dieser bäurisch weißhäutige Mann mit den rabenschwarzen Löckchen und den geröteten Wangen, dem das freie Sichbewegen im halbnackten Zustand unter anderen Halbnackten eine schwierige Neuigkeit war – um die Differenz möglichst drastisch zu benennen, fiel mir nur „Tschetschene“ ein, „das ist gewiß ein Tschetschene“. Vielleicht war es aber ein Albaner oder ein Lappe, ein Angehöriger einer uns ganz und gar unvertrauten und deshalb unlesbaren Ethnie. Dabei wird deutlich, wie wenig „von Natur“ dieses Fleisch anders ist; es verdankt sich bloß einer uns unbekannten sozialen Konstruktion.

Und an dieser Stelle muß gesagt werden, daß auch der Soziologe, aus dessen Perspektive hier berichtet wird, ein alternder Mann von Anfang 50, auf die Freibadpopulation insgesamt gerechnet, einer differenten Gruppe angehört, gewissermaßen als Ausländer gebucht werden muß. Klar, man sieht ein paar Omas und Opas. Aber im wesentlichen gehört das Freibad wie das Kino und die Diskothek, die Straßenlokale, das Nachtleben dem jungen Menschen.

Sex. Mir ist unbekannt, ob der Soziologe Georg Simmel – oder einer seiner Schüler – eine Analyse des Schwimmbads verfaßt hat. Simmel verdanken wir eine plausible Erklärung, warum das weibliche Dekolleté bei großer Garderobe nicht als das wirkt, was es ist, eine halbwegs entblößte weibliche Brust.

So funktioniert auch das Freibad. Während ein unvorbereitet eingeflogener Gast aus einer puritanischen, auf gründliche Verhüllung der Haut von Männern wie Frauen gründenden Kultur den schockierenden Eindruck empfinge, all diese so gut wie nackten Menschen bereiteten sich in der

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sommerlichen Hitze doch wohl unverkennbar auf ein Bacchanal vor, nur noch wenige Zentimeter Kleidungsstoff trennten die Teilnehmer von der sexuellen Überwältigung durch einander – ganz im Gegensatz dazu weiß der Einheimische, der mit den Regeln der Institution vertraut ist, daß diesen so gut wie nackten Menschen nichts ferner liegt, als sich sexuell aneinander heranzumachen. Die Nacktheit im Freibad ist eine Form der Bekleidung, bei der es sich halt ebenfalls um eine soziale Konstruktion, ein Zeichensystem handelt und wenig Materielles.

Das gilt schon gar für die Vollnacktenwiese, wie die meisten Freibäder sie inzwischen anbieten. Unsittlichkeitsbefürchtungen, die heutzutage nur noch das erzbischöfliche Ordinariat hegt; die in den Zwanzigern zu einem berüchtigten Zwickelerlaß (die Abgeschlossenheit der Badebekleidung in der Genitalgegend sei zu gewährleisten) geführt haben, weil der triebstarke Bürger nur durch staatliche Gewalt an der Verwirklichung seiner Triebziele gehindert werden könne – das Freibad entlarvt solche Ideen als bösartige Projektionen der Kontrolleure.

Selbst Liebespaare gehen hier auf Distanz zueinander, scheinen plötzlich körperlich unvertraut; noch nie habe ich eine erotische Kontaktaufnahme beobachtet, auch unter den Schwulen nicht, die dort drüben ihren festen Lagerplatz haben (und bei ihnen soll doch die erotische Jagd zum Standardrepertoire gehören).

Das ist ganz einfach, meldet sich noch einmal unsere psychoanalytisch gebildete Freundin. Frage dich selbst, womit du die ganze Zeit befaßt warst.

Mit Schauen. Und damit sind natürlich auch alle anderen die ganze Zeit befaßt, Schauen und Sichzeigen, Voyeurismus und Exhibitionismus, wie es in der Triebtheorie von Professor Freud geschrieben steht. Als nackter Mensch darf man einläßlich andere nackte Menschen mustern und wird ebenso gemustert, und deshalb liegt über dem Freibad unzweifelhaft der Schimmer eines erotischen Vergnügens. Schauen und Zeigen, das ist die Sexualtätigkeit, der das Freibad obliegt.

Ganz anders sehen es die Höllenhunde, schließt unser mythologisch gebildeter Freund, die Schar der Unter- und Nebenteufel, die als Bewacher und Quäler der in ihren unerlösten Begierden schmorenden Sünder für die Ordnung von Qual und Unerlöstheit zu sorgen meinen: die Bademeister. Hast du das Plakat vorn am Duschraum gesehen, daß du dich gleich um Hilfe an sie wenden sollst, wenn du dich sexuell belästigt fühlst?

Jedenfalls brüllen sie, wenn die kleinen Jungs doch wieder von der Längsseite springen; wenn eine Dame auf der Sonnenterrasse statt draußen ihre Zigarette raucht; wenn einer seine Colaflasche ans Schwimmbecken mitbringt (könnte doch zerschellen: und wer fischt die Scherben raus?) – sie brüllen durch ihr Megaphon, als sei die staatliche Grundordnung zerbrochen und müsse sofort wiederhergestellt werden.