Eingefrorene Geschichte

Der Streit um Ost- und Westkunst ist zu einem um alte Werte geworden. Eine Nachbetrachtung  ■ Von Katrin Bettina Müller

Als im Frühjahr die Bilder sogenannter „Staatskünstler“ aus den Beständen der Alten Nationalgalerie in Ostberlin mit denen progressiver Westkünstler in der Neuen Berliner Nationalgalerie vereinigt wurden, gab es quer durch die Reihen der Kritiker, Museumsdirektoren und Kulturpolitiker einen Aufschrei. Manche reagierten hocherfreut, andere gingen gegen die Neuschreibung von Kunstgeschichte auf die Barrikaden. Das Argument der Gegner wog schwer: Werden die Dissidenten des DDR-Regimes mit der Übernahme staatskonformer künstlerischer Positionen von Sitte, Tübke und Co. ein zweites Mal zu Außenseitern erklärt? Zudem hat sich am Akt der Zusammenhängung eine weitere Debatte entzündet. Es geht nicht mehr allein um Haltung, sondern um die mögliche formale Qualität der einst so verpönten DDR-Kunst. Man sucht nach einem neuen Realismus und scheint ihn bei den Alten gefunden zu haben. Mit unserem heutigen Beitrag beginnen wir eine Serie, die im Osten vor Ort, in den Museen von Dresden, Leipzig, Cottbus oder Frankfurt/Oder, Bilanz ziehen wird: Deutsche Kunst – was nun?

Tatort: Neue Nationalgalerie Berlin. Nicht ins Depot, wie vielerseits befürchtet, wanderte die aus der Alten Nationalgalerie Ostberlins übernommene Prominenz der DDR-Maler. Doch die Verzahnung der Kunst aus Ost und West, mit der eine Neuordnung der Bestände von Malerei und Skulptur im 20. Jahrhundert vorläufig endet, löste rundum einen gewaltigen Zorn aus.

„Im Etappenquartier von Paris 1871“ erweisen sich die preußischen Offiziere in tadelloser Standbein-Spielbein-Stellung als Herren des Salons. Diese anekdotische Verklärung des Krieges als Herren-Kultur-Abend, 1894 von dem Berliner Akademie-Präsidenten Anton von Werner gemalt, hängt in der Alten Nationalgalerie dem „Eisenwalzwerk“ von Menzel gegenüber. Von der Glut des Eisens erleuchtet und in rußigen Dampf getaucht, kündigt sich da eine Veränderung der Wahrnehmung als eine Folge der industriellen Revolution an.

Im Kontrast des kunsthistorisch unbedeutenden Soldatenbildes und des in Inhalt und Malweise zugleich innovativen „Eisenwalzwerk“ verweist die Alte Nationalgalerie auf ihre lange Chronik kulturpolitischer Reibungen. Denn seit ihrer Eröffnung 1876 mußten sich die Direktoren des nationalen Pomps erwehren. Nur gegen den Widerstand der kaiserlichen Kulturpolitik und der lokalen Künstlerlobby war es dem Direktor Hugo von Tschudi zum Beispiel gelungen, französische Impressionisten zu erwerben. Erst heute, über hundert Jahre nach der Gründung, erlaubte die Zusammenführung der Kunst des 19. Jahrhunderts aus der im Ostteil Berlins gelegenen Alten Nationalgalerie und der im Westen eingerichteten Neuen Nationalgalerie, jenes kunstgeschichtliche Konzept zu verwirklichen, das die Theoretiker damals entwickelten.

Wieder gibt es einen Streit um „Staatskunst“, allein die Rollen sind neu verteilt. Unter Kunstwissenschaftlern und Künstlern der ehemaligen DDR riefen die Bilder der bekanntesten Maler des abgewickelten Staates einen wütenden Protest hervor. In deren Werken „überkommt uns die Perspektive der Großen Kunstausstellungen in Dresden wieder, diesmal in den Blickachsen der Nationalgalerie“, so der Kurator Christoph Tannert: „Da wird die Instrumentalisierung der Kunst, wie wir sie erlebt und erlitten haben, vergessen. Da scheint die Zeit stehengeblieben. Wer in dieser Geschichte dringesteckt hat, muß laut aufschreien.“

Anfang Mai hatte Christoph Tannert, unter anderem zusammen mit der Kulturpolitikerin Gabriele Muschter, Staatssekretärin im letzten DDR-Kulturministerium, und den Künstlern Lutz Dammbeck, Via & Pia Lewandowsky, eine Gründungscharta für einen „Verein der Überlebenstrainer der Neuen Nationalgalerie zu Berlin“ aufgesetzt. In diesem dadaistisch zugespitzten Manifest erhoben sie das „reale Maß an politischem und künstlerischem Abstandsverhalten von Künstlern aus der ehemaligen DDR“ zum wichtigsten Kriterium in der Bewertung der Kunst aus der ehemaligen DDR. Mit Unterstützung von Uwe Lehmann-Brauns, stellvertretender Vorsitzender der CDU-Fraktion des Berliner Abgeordnetenhauses, initiierten sie eine Anhörung, die ihrer Kritik ein großes Echo verlieh. Damit regten sie eine Diskussion an, die sich zumindest auf den Feuilleton-Seiten der FAZ, der Zeit und des Berliner Tagespiegels niederschlug.

In der Neuen Nationalgalerie ringt derweil der Führer einer Schulklasse nach Worten, um Willi Sittes verrufenes „Leuna 1921“ (von 1965/66) mit Konrad Klaphecks „Glanz und Elend der Reformen“ (1971/75) in Beziehung zu setzen. Schnell ist der kämpferische Impetus von Sitte geklärt: Groß und rotumflammt, die Faust nach vorn gereckt, beherrscht eine symbolische Figur das Gedränge von Straßenschlacht, Tod und Trauer, den kommenden Sieg des Sozialismus ankündigend. Stillstand statt Bewegung, Distanzierung statt Überwältigung bestimmt dagegen Klaphecks unterkühlte Untersicht auf eine Straßenraupe. Mit dem Glauben an die Technik als Bewegungskraft scheint in dem Bild auch jede Möglichkeit des Fortschritts erstarrt. So läßt sich in Abgrenzung zum sozialistischen Pathos plötzlich Kultur- Pessimismus aus dem Objekt-Fetischismus der Pop-art filtern. Die Schüler schreiben eifrig mit. Natürlich verändert die museale Hängung die inhaltlichen Bezugssysteme.

Tatsächlich ist die Verführung groß, die pathetischen Geschichts- Bilder der DDR als Menetekel vom Ende des Sozialismus umzudeuten. Aus Tübkes kopistenfleißiger Flucht in die historische Imitation oder aus der festgefrorenen Einsamkeit der Protagonisten bei Mattheuer lassen sich mühelos Artikulationen der Not und Abkehr lesen. Doch eine solche (Um- )Wertung erscheint den Kritikern der jetzigen Hängung als „Geschichtslüge“. Tannert erboste besonders Eduard Beaucamps kunstvoller Salto in der FAZ: „Die Künstler haben im zeitweisen Glauben an die DDR geirrt. Ihre Bilder lügen nicht. Sie setzten sich mit dieser Täuschung auseinander.“ Gegen diese Entschuldung der Maler klagen die Gründer der Charta die Berücksichtigung der parteipolitischen Bekenntnisse der Kunstproduzenten und vor allem der Funktionalisierung ihrer Kunst ein. Damit behaupten sie, daß die Intention von Kunstproduzent und Auftraggeber den Kunstwerken eine wahre Lesart unveränderbar eingeschrieben habe. Dabei müßten gerade die Kritiker der staatlich genutzten Kunst wissen, daß Kunst nie nur eine Wahrheit kennt. Sie übersehen den dialektischen Prozeß der Kunstbetrachtung, in dem sich die „Wahrheit der Bilder“ jeweils im Betrachter formt, der seinen eigenen Kontext mitbringt – und der differiert erheblich je nach der Herkunft aus den alten und neuen Ländern.

Zur Aufwertung der expressiven DDR-Maler tragen die historischen Fluchtlinien bei, die zu Beckmann, zu Dix und Grosz und den Malern der Brücke führen. Diese Tradition, schon allein durch ihre nationalsozialistische Diffamierung auf der politisch korrekten Seite verbucht, legitimiert die Rückkehr zur gegenständlichen, narrativen Malerei.

Nicht nur in der jetzt laut gewordenen Kritik an der Nationalgalerie zeigt sich der Wunsch professioneller Kunst-Interpreten der neuen Bundesländer, die Kunst der DDR nur unter pädagogischem Begleitschutz in die Öffentlichkeit zu lassen. So kämpft der Verband der Kunstwissenschaftler und Kunstkritiker, „die sich schon seit 1990 unter neuen Gesichtspunkten mit der Kunst der DDR beschäftigen“ und „über spezielle Kenntnisse der Kunst und der Künstler der jeweiligen Region“ verfügen, um die Kompetenz, die Auftragskunst der DDR, die mit Immobilien und Betrieben in den Besitz der Treuhand gelangte, wissenschaftlich zu erforschen. In diesem Anliegen zeigt sich zum einen die Sorge, das eigene Wissen weiter als Betriebskapital nutzen zu können.

Zum anderen gehen die Spezialisten mit der Kunst der DDR wie mit einem gefährlichen Stoff um, der nicht in die Hände Ahnungsloser fallen darf. Das eigentliche Drama dieses Wachschutzes über die Deutung aber ist, daß die Sprengkraft der Forschungsobjekte schon von der Geschichte entschärft wurde. In die Neue Nationalgalerie gelangten die verschrieenen Bilder ja nur, weil die Nation, für die sie argumentierten, nicht mehr existiert.

Dieter Honisch, der Direktor der Neuen Nationalgalerie, umschreibt dies: Der Bestand sei seiner Verantwortung zugewachsen. Eine „Wiedervereinigung“ betraf dabei nur die Bestände, die bis zum Zweiten Weltkrieg erworben wurden. Danach klafften die Sammlungskonzepte auseinander: Die Neue Nationalgalerie verfolgte die Entwicklung der europäischen und amerikanischen Moderne, mit einem deutschen Schwerpunkt, die Alte Nationalgalerie sammelte ausschließlich Kunst der DDR. Diese heterogene Entwicklung ist noch in den Brüchen der jetzigen Ausstellung spürbar, die unausgegoren zwischen deutscher und internationaler Kunst schwankt.

Schon allein die Prominenz des Ortes verleiht der Neuordnung der Nationalgalerie paradigmatischen Charakter für den Umgang mit der Ostkunst. Denn für viele Museen der neuen Bundesländer stellt sich die Frage, ob sie auf Distanz zum alten Bestand gehen, ob sie eine Trennung von „offizieller“ und „authentischer“ Kunst brauchen. Fest steht oft nur, daß die meist regional beschränkten Sammlungen weder mit der Westkunst kompatibel sind noch allein durch Ergänzungen aktualisiert werden können.

Die jetzige Wut über die „Verharmlosung“ der Bilder mag auch von einem neu erfahrenen Mangel herrühren: dem existentiellen Bedeutungsverlust der Kunst als stellvertretender Schauplatz politischer Diskussionen.

In dem Verlangen nach Dokumentation des Entstehungszusammenhangs schwingt ein Bangen um jene DDR-eigene bedeutungsstiftende Aufladung der Kunst mit, die durch die Kontrolle der öffentlichen Kommunikationsräume bedingt war. „Vielleicht ist das eine ostdeutsche Qualität“, bestätigt Tannert, „gefühlt und verstanden zu haben, daß Kunst – ob Staatskunst oder nicht – eine gesellschaftliche Relevanz hatte.“ Gerade in den hohen Erwartungen an den aufklärenden Geist der Kunst unterscheiden sich die Kunstbetrachter Ost und West, mehr vielleicht noch als die Werke selbst. Diese Differenz der Wahrnehmung kann kein Nebeneinander von Bildern überwinden oder ausbalancieren. Der Versuch käme einer Täuschung über vierzig Jahre getrennter Geschichte gleich.

So wird in der Vehemenz der Kritiker an der unkommentierten Durchmischung der deutschen Bestände ein großes Bedürfnis spürbar, sich mit der Kunst identifizieren zu können. Sie wollen jetzt jene Reflexion der Wirklichkeit in der Kunst eingelöst sehen, die der sozialistische Realismus versprach und dann als Potemkinsches Dorf erzeugte. Tannert vermißt zum Beispiel eine Ausstellung, die das Problem der nationalen Identitätsstiftung mit den Mitteln der Kunst direkt zum Thema macht: Dort hätten dann die erfolgreichen Maler des Ostens ebenso wie die an der Schmerzgrenze des Strafbaren operierende Dissidentenszene neben Mythenforschern wie Anselm Kiefer Platz.

Dieter Honisch dagegen setzt auf eine zukünftige Verminderung der „deutschen Komponente“. „Mein Problem ist eher, daß wir zu deutsch geworden sind, daß west- und osteuropäische Bestände zu kurz kommen.“ Deshalb besteht wenig Hoffnung, daß in der geplanten Erweiterung der Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof jene weißen Flecken der DDR- Kunstgeschichte jenseits von Malerei und Skulptur aufgearbeitet werden, die junge Künstler in der jetzigen Präsentation so sehr vermissen.

Denn der Konflikt schwelt nicht nur um die „Staatskunst“. Der „Verein der Überlebenstrainer der Nationalgalerie“ vermutet, daß die Ostmalerei einer klammheimlichen Verdrängung eines erweiterten Kunstbegriffs gut in den Kram paßte. „Den Traditionalisten liegt die DDR-Malerei“, zieht Tannert ein Fazit aus dem ersten begeisterten Echo über die Neuordnung von Kunsthistorikern wie Eberhard Roters oder Journalistinnen wie Camilla Blechen. In der Verteidigung der Leipziger Maler wittert er eine Aufrüstung für „den Abbildbegriff, das Keilrahmengeviert, die pastose Malweise.“

Den Vorwurf des Konservativen kann die jetzige Präsentation schwer abschütteln, setzt sie doch allein auf Malerei und Plastik, die für die Kunst des 20. Jahrhunderts nur sehr lückenhaft einstehen. Für diese Ausgrenzung eines offenen Kunstbegriffs ist auch das langfristige Konzept verantwortlich, mit Fluxus einen zeitlichen und medialen Schnitt zwischen der Präsentation in der Neuen Nationalgalerie und der Erweiterung im Hamburger Bahnhof anzusetzen: Erst dort sollen Video, Installation und konzeptuelle Ansätze einen Schwerpunkt bilden. Die Annäherung an die Kunst der Gegenwart auf später zu verschieben erweist sich als hausgemachte Altlast im jetzigen Dilemma.

„Die jetzige Ausstellung ist nicht endgültig“, betont Dieter Honisch. „Die Bilder sind für uns ein Material, das wir immer wieder neu durchgehen. Das Museum ist ein Arbeitsfeld, kein Weihetempel.“ Eine Übung im Umgang mit der Ostkunst war der Neuordnung schon vorausgegangen: Die erste, vorsichtige Präsentation rasselte vor allem mit dem Vorwurf der Verharmlosung, Entschärfung und Befriedung der DDR-Kunst bei der Kritik durch. „Als sei es ein Fluch der Dialektik“, schrieb damals Sabine Vogel im Tagesspiegel, „äußert sich die Befreiung vom zwangsverordnenden Optimismus als humorlose Tristesse.“

Die Frage nach der geforderten Aufarbeitung der Sammlungsgeschichte der Alten Nationalgalerie beantwortet Dieter Honisch mit dem Verweis auf „Inventarisierung“: „Drei Jahre lang haben drei Wissenschaftler nichts anderes gemacht, als 3.500 Gemälde zu inventarisieren und in den Computer zu speichern. Das sind die Grundlagen für einen neuen Bestandskatalog.“ Wie da eine ordentliche Kunstbürokratie an die Stelle der kritischen Auseinandersetzung mit der politischen Indienstnahme der Kunst rückt, gießt allerdings wieder Wasser auf die Mühlen der Museumskritiker.