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„Das Spannende ist das Aufreißen“

Die Wundertüte, eine Entwicklung aus der Zeit des „Wirtschaftwunders“, kommt – nach einer Krise in den 70er Jahren – auch im Zeitalter von Baseballkappe und „Young Collections“ gut an  ■ Aus Bamberg Bernd Siegler

Ein Kinderkarussell, eine Schiffschaukel, ein Autoscooter und ein paar Verkaufsstände. Mehr ist nicht. Die Laurenzi- Kirchweih im oberfränkischen Bamberg ist ein typischer Stadtteiljahrmarkt. Die bunten Lämpchen und die aufgetürmten Süßwaren begeistern die Kinder wie eh und je – und natürlich die Wundertüten.

Sie kosten eine Mark und gehen weg wie warme Semmeln. „Da ist nichts Gescheites drin“, meint die 64jährige Budenbesitzerin. Anerkennend und auch zufrieden räumt sie aber ein, daß sie pro Tag von den Tüten einen großen Karton voll verkauft. Die Losverkäuferin kann das gar nicht glauben. Früher wäre das schon etwas gewesen, aber heute? „Damit sind doch die Kinder nicht zufrieden, das ist doch alles zuwenig, die wollen doch heute alle viel mehr.“ Da hat sie sich aber getäuscht.

Die fünfjährige Sabrina schätzt Wundertüten sehr. „Da sind Hefte drin, ein Bleistiftspitzer, was zum Spielen und zum Naschen“, weiß sie zu erzählen. Schon allein beim Gedanken an die Wundertüte gerät sie ins Schwärmen und bekommt große Augen. Alle zwei Wochen kauft sie sich von ihrem Taschengeld eine Tüte. Enttäuscht worden ist sie dabei noch nie. Der sechsjährige Max dagegen schon. Aber das stört ihn nicht weiter. „Das nächste Mal kaufe ich mir wieder eine.“ An Wunder glaubt Max schon lange nicht mehr, aber Wundertüten findet er „einfach toll“. Für ihn kommt es nicht auf das Produkt an, das er in der Tüte vorfindet. „Das Spannende ist das Aufreißen. Das ist, wie wenn man ein Geheimnis lüftet.“

Auf diesen Effekt setzt Sabine Homann. Sie ist 42 Jahre alt und leitet seit 1987 zusammen mit ihrem Ehemann Klaus die „Heinerle Spiel- und Süßwaren GmbH“ mit Sitz in Bamberg. Das Unternehmen ist Deutschlands traditionsreichster Wundertüten-Hersteller. „Die Wundertüte ist eine geniale Idee“, meint die gelernte Betriebswirtin. Sie ist von ihrem Produkt restlos überzeugt. Fünf bis sechs Millionen Wundertüten pro Jahr erzielen immerhin 10 Prozent des Gesamtumsatzes der Firma mit den 180 Mitarbeitern. Den Rest bringen Schokoriegel, Plastiktiere und anderes Spielzeug. „Die Kinder können die Wundertüte von ihrem Taschengeld kaufen, der Preis ist relativ gering, aber man hat immer die Chance, etwas Tolles zu bekommen“, umreißt Sabine Homann das erfolgreiche Tütenkonzept.

Die Auswahl trifft die Firmenchefin – unter fachkundiger Beratung ihrer beiden Kinder. Bevor etwas in die Tüte kommt, wird es vorher ausprobiert. Da kommt es schon mal vor, daß die Styroporpfeile mit Saugnapf kreuz und quer durch das Chefzimmer sausen. „Es muß Aktionsspielzeug sein, also nicht Dinge, die hübsch sind und dann auf dem Fensterbrett stehen, sondern Sachen, die das Kind eine Weile beschäftigen“, lautet das entscheidende Kriterium für die Wundertüten-Füllung. „Gruseliges aller Art“ lehnt Sabine Homann entschieden ab. So finden sich dann Drehkreisel, kleine Propeller und Schleppdampfer, Jojos, im Sommer Wasserspritzpistolen und im Winter Geduldsspiele in den Tüten. Dazu kommen Kaugummis, Puffreis oder Schokolutscher, „Fix und Foxi“-Taschenbücher, Bleistiftspitzer oder Schlümpfe. Viele der Spielsachen kommen aus dem fernen Osten. Der Rest wird im Heinerle- Zweigwerk in Schlüsselfeld hergestellt und – der Kosten wegen – in Tschechien zusammengebaut. Im Zweigwerk Schlüsselfeld wird in drei Schichten rund um die Uhr gearbeitet. Plastikgeruch liegt in der Luft. Nahezu vollständig automatisiert wird gepreßt, gespritzt, gerüttelt, gestanzt und mit Ultraschall verschweißt – bis das Wunder in Form gebracht ist. 30.000 Babyflaschen mit Zuckerperlen gefüllt und 20.000 Indianerfiguren laufen hier pro Tag von den Bändern. Fünfundzwanzig Tonnen Plastikgranulat werden im Monat eingeschmolzen und verbraucht. „Natürlich kein PVC und alles lebensmittelechte Farben“, versichert Betriebsleiter Richard Zipfel.

Gut eingeölt lagern in einer abgeschlossenen „Schatzkammer“ die Spritzformen der letzten vier Jahrzehnte. Manche werden gar nicht mehr gebraucht. Die Puppenküchen-Einrichtung beispielsweise. „Das geht heute nicht mehr“, betont Zipfel. Aber das fachgerechte Einmotten der etwa 50.000 Mark teuren Formen lohnt sich. „Als die Dinosaurier vor ein paar Jahren modern wurden, waren wir in einer glücklichen Lage. Wir brauchten nur unsere alte Form von 1963 hervorkramen.“ Damals, vor dreißig Jahren, waren Diplodocus, Triceratops oder Stegosaurus die Renner in den Wundertüten.

Ansonsten änderte sich am Inhalt der Wundertüten im Laufe der Jahre nicht sehr viel. Lediglich die Farben werden jeweils auf den neuesten Stand gebracht, früher Pastell heute Leuchtfarbe, und das Design der Autos wird aktualisiert. „Es hat sich wenig geändert und wird sich auch wenig ändern“, betont Sabine Homann. Früher hätten die Kinder die Autos geschoben, heute gebe es eben den Rückzugsmotor. Aber „am Prinzip, daß etwas Krach macht, davonfliegt oder geschoben werden kann“, daran werde sich nichts ändern.

Nur das Design der Tüte liegt immer im Trend. Als Hugo Hein, Sabine Homanns Vater, 1951 mit seinen Back- und Puddingmischungen nur mäßigen Erfolg hatte, kam ihm auf dem heimischen Sofa die Idee. Er sattelte auf Wundertüten um. „Heinerle- Wundertüten“ segelten mit dem Wirtschaftswunder auf der Erfolgswelle. Mit den Slogans „Dir zum Lohne“ oder „Weil ihr so brav seid“ bescherte auf Werbeplakaten die meist blondgelockte, blauäugige Mutter ihre pausbäckigen, ebenfalls blondgelockten und blauäugigen Kinder mit einer Tüte für 10 Pfennig. Der „Heinerle“-Laster brachte die Wundertüte ins europäische Ausland. Als „Lucky Bag“, „Wonderzakje“, „Sachet surprise recherché“ oder „Grandiosa bolsa de sorpresa“ eroberte „Heinerle“ die Welt.

Während Cornelia Froboess den Schlager „Pack die Badehose ein“ trällerte und „Let's twist again“ die Hüften der Wirtschaftswundergeneration zum Wackeln brachte, verkaufte Hugo Hein bis zu zwanzig Millionen Wundertüten im Jahr an die kleinen Kunden. Meist waren es themenbezogene Tüten, hatten die Wunder konkrete Gestalt, erinnert sich der 62jährige Georg Sturm, der seit 1963 im Schlüsselfelder Zweigwerk arbeitet. „Zuerst kam die Afrika-Serie mit Elefanten, Löwen, Tigern, mit Negern und ihren Hütten, dann die Cowboy-Serie mit den Befestigungsanlagen, Trappern, Indianern und Pferden.“ Dann die „Circus-Serie“, die „Tischleindeckdich“-Serie, die „Raumfahrt“-Serie und die „Soldaten im Katastropheneinsatz“. Die Serien boten den Kindern Anreize zum Sammeln. Der Kauf einer Tüte brachte den Kauf der nächsten mit sich – schließlich wollte man eine komplette Serie.

Nach dem gleichen Prinzip wurden in den sechziger Jahren dann die „Sportserien“ auf den Markt gebracht. Bilder der Stars der Bundesliga- Saison, deren Lizenzen heute für die mittelständische Firma aus Oberfranken unerschwinglich sind. Auch die beliebten Mickymaus-Lutscher mußten aus dem Programm genommen werden, nachdem der Weltkonzern Nestlé die Lizenzen der Walt-Disney-Figuren für seine Tütensuppen aufgekauft hatte.

Doch nicht die Überraschungseier, die Süßwaren-Gigant Ferrero heute in einer „Auflage“ von 120 Millionen Stück auf den Markt wirft, stürzten die Wundertüte in die Krise, sondern das Sterben der kleinen Kioske in den siebziger Jahren. „Das waren unsere klassischen Verkaufsstellen“, betont Firmenchefin Homann. Da nützte auch die Aufmachung der Tüten wenig, die oft den „Superknüller“ versprach. Supermärkte weigerten sich, Wundertüten in ihr Sortiment aufzunehmen. Mit ihrer Größe paßte die Tüte nicht in den engen Kassenraum, in dem die „Quengelware“ die Kinder grabbeln lassen und die Mütter zum Kauf animieren sollen. So ist heute der Ruhrpott Hauptabsatzgebiet der Wundertüte, dort haben sich die Kioske halten können. Im süddeutschen Raum bleiben einzelne Geschäfte und vor allem die Jahrmärkte und Kirchweihen.

Ende der siebziger Jahre erhielt Homann auch die meisten Beschwerdebriefe über den Inhalt der Tüte. Eltern nahmen Anstoß an Knallpistolen mit Gummistöpsel oder Spielzeugfeuerzeugen zum Wasserspritzen. Kinder würden damit zur Gewalt oder zum Rauchen animiert. „Das war eine moralisierende Zeit“, weiß die Firmenchefin, nahm aber trotzdem die Produkte aus dem Programm.

In den achtziger Jahren verstummte die Kritik, der freie Fall der Wundertüte konnte gestoppt werden. Ohne großen Schwankungen nach oben und unten werden seitdem etwa sechs Millionen Stück im Jahr verkauft. „Krallen!“ fordert ein peppig aufgemachtes Krokodil die kleinen Kunden mit Erfolg zum Kaufen der Wundertüte 1994 auf. Die ist voll recycelbar, hat den Grünen Punkt, und ihr Inhalt entspricht den EG-Normen.

Noch heute werden die Tüten von Hand verpackt. Tausend Stück schaffen die sechs Frauen pro Tag an den Fließbändern in Bamberg. Bis zu dreißig verschiedene Füllungen sorgen dafür, daß die kleinen Kunden fast immer etwas anderes in der Tüte haben. In nur zehn Sekunden hat Gertraud Liebeck eine Tüte versandfertig. Die 43jährige glaubt nicht an die Zukunft des Produkts, das ihr den Arbeitsplatz sichert. „Irgendwann hört das auf. Für Kinder unter drei Jahren ist die Tüte nicht geeignet, und über drei Jahren fangen die bald an mit den Computern und den Telespielen.“ Firmenchefin Homann ist dagegen felsenfest überzeugt, daß die Wundertüte trotz Computer und Überraschungseiern „immer ihren Platz auf dem Markt hat“. Die Faszination mit den geschlossenen Tüten werde immer anhalten. „Außerdem merken die Leute, daß die Wirtschaftsbäume nicht in den Himmel wachsen. Dann besinnen sie sich auf das kleine Wunder zurück.“

Für den siebenjährigen Simon ist das mit den Wundertüten keine Frage, auch wenn er zu Hause längst mit Gameboy und Super- Mario spielt. Seine Version des Tüteneffekts: „Ein Wunder ist passiert, wenn man danach glücklich ist.“ So einfach ist das.

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