Kaum was gemacht und schon gar nichts gesehen

■ Im zweiten Prozeß nach den Himmelfahrtskrawallen leiden die Angeklagten unter Gedächtnisschwund / Frühere Aussagen komplett zurückgezogen

Magdeburg (taz) – Der Vorsitzende Richter an der 5. Strafkammer des Magdeburger Landgerichts, Ludwig Fabricius, konnte den Angeklagten nicht dazu bewegen, seine früheren Aussagen vor Gericht noch einmal zu wiederholen. Der 21jährige Heiko K. blieb standhaft. Er gab lediglich zu, zwei Stühle am Himmelfahrtstag in die Scheiben der Marietta-Bar geschleudert zu haben.

Was seine Kumpels gemacht haben, daran will sich der Auszubildende nicht erinnern. Auch seine beiden 23jährigen Mitangeklagten Steffen Sch. und Carlo F. zogen frühere Aussagen zurück, in denen sie sich ausführlich eingelassen hatten. Heiko K. hatte zuvor bei der Haftrichterin umfassend ausgesagt und dabei die Beteiligung anderer an den Ausschreitungen detailliert geschildert. Er selbst hatte zwar als Zeuge im ersten Prozeß vor der Jugendschöffenkammer des Amtsgerichtes als ebenfalls Beschuldigter die Aussage verweigert. Die Jugendschöffenkammer vernahm daraufhin kurzerhand die Haftrichterin als Zeugin.

Im ersten Prozeß verfiel der anfangs sehr geständige Steve A. in Schweigen. Bei der Haftrichterin hatte er nicht nur seine Tatbeteiligung zugegeben, sondern auch andere Hooligans belastet. Vielleicht verschloß ihm die massive Präsenz seiner Hooliganfreunde auf den Zuschauerbänken den Mund.

Gericht und Staatsanwaltschaft versuchten im gestrigen zweiten Prozeß vergeblich, Heiko K. goldene Brücken zu bauen. Heiko K.s Anwalt bestärkte die Front des Schweigens, als er sagte, sein Mandant werde sich ausschließlich zu seiner Tatbeteiligung äußern. Aber auf den Verteidiger setzt das Gericht weiterhin. „Vielleicht besprechen Sie das Ganze noch einmal in Ruhe mit ihrem Verteidiger“, ermunterte Richter Fabricius den angeklagten Heiko K.

Die Staatsanwaltschaft ist überzeugt, daß Heiko K. schlichtweg Angst vor Repressionen der Szene hat. Deshalb lasse sich der Angeklagte seit seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft kaum noch in der Öffentlichkeit und schon gar nicht an den einschlägig bekannten Treffpunkten der Hooligan-Szene sehen, so ein Anklagevertreter.

Sechs Verhandlungstage hat das Gericht angesetzt, um herauszufinden, was Heiko K. lieber für sich behält. 25 Zeugen sollen den Richtern dabei helfen. Das Urteil wird für Freitag kommender Woche erwartet.

Das Verfahren vor der 5. Strafkammer des Landgerichts ist der zweite Prozeß nach den ausländerfeindlichen Ausschreitungen in der Magdeburger City am Himmelfahrtstag. Rund dreißig Hooligans hatten damals am Nachmittag etwa fünfzehn Schwarzafrikaner zunächst durch die Magdeburger Innenstadt gejagt und anschließend die von Türken betriebene Marietta-Bar und einen danebenliegenden Döner-Imbiß verwüstet, als sich einige der verfolgten Schwarzen in die Bar geflüchtet hatten. Mit der Menschenjagd und den Krawallen vor der Marietta- Bar begannen gewalttätige Ausschreitungen, die sich bis in die Nacht hinzogen.

Von der Menschenjagd wollen die drei Angeklagten aber überhaupt nichts mitbekommen haben. Sie reagieren nachgerade fassungslos, jetzt vor dem Kadi stehen zu müssen. Denn eigentlich, so ihre Selbstdarstellung, seien sie so brave Jungs, daß sie nicht einmal wissen, wer oder was Hooligans überhaupt sind, geschweige denn, daß sie sich selbst zu dieser Szene rechnen.

Bislang hat die Staatsanwaltschaft siebzig Tatverdächtige an den Ausschreitungen ermittelt und in siebzehn Fällen Anklage erhoben. Ermittelt wird auch gegen Polizisten, denen vorgeworfen wird, nicht nur Sympathie für die Hooligans gezeigt zu haben, sondern die Gewalttätigkeit in Einzelfällen sogar unterstützt zu haben. Zwei Beamte wurden vom Dienst suspendiert, und Magdeburgs Polizeipräsident Antonius Stockmann mußte wegen der Vorfälle seinen Hut nehmen. Eberhard Löblich