Ein Rest von Menschlichkeit

■ betr.: „Verhelfen Sie Irmgard Möl ler zur Freiheit, Frau Justizministe rin!“, taz vom 9.8.94

Jeder, der sich in unserer Ellbogengesellschaft noch einen Rest von Menschlichkeit bewahrt hat, sollte die Forderung von Ralph Giordano unterstützen, Irmgard Möller umgehend aus der Haft zu entlassen. Dazu eine Äußerung von Heinrich Böll, die sinngemäß lautete: Was ist das eigentlich für ein Staat, und wie schwach muß er sein, wenn er sich von einer Handvoll Desperados in seiner Existenz bedroht fühlt und Armeen von Polizei und Bundesgrenzschutz zur Hatz auf die RAF mobilisert!

Hinzufügen möchte ich: Was ist das für eine sich christlich nennende Regierung, die es zuläßt, daß sich ihre Justiz an ehemaligen RAF-Mitgliedern rächt und ihre in Isolierhaft einsitzenden StraftäterInnen, die sich längst von ihren Verbrechen distanziert haben, der psychischen und physischen Vernichtung preisgibt. Herward Beschorner, Berlin

Ralph Giordano hat es wieder mal geschafft, ohne um den heißen Brei zu reden, auf die Rechtlosigkeit unseres Staates hinzuweisen. Dem Artikel ist fast nichts hinzuzufügen. Ich möchte nur noch einmal an die Magdeburger Polizei erinnern, die angeblich nichts wußte, oder an die Begründung des Urteils gegen Deckert. [...] Solche Leute wie Giordano braucht das Land, sonst wäre es ziemlich unerträglich mit den ganzen Schäubles, Stoibers, Gersters, Schönhubers usw. Philipp Horn, Karlsruhe

Das ist ein Phänomen unter den linksliberalen Intellektuellen: Da beschreibt Ralph Giordano faktenreich die Untätigkeit der jungen und jüngsten bundesdeutschen Justiz gegenüber den Terroristen des NS-Regimes. Und dagegen wird die Tatenlosigkeit ebenderselben Justiz angeprangert, wenn diese sich weigert, nun bald Irmgard Möller in die Freiheit zu entlassen. Daß hier eine innere, kontinuierliche Logik aufscheint und nicht etwa ein Widerspruch beschrieben wird, geht Giordano nicht auf. Wie sonst könnte er sich an die Ministerin von Kohls und Kinkels Gnaden wenden, eine Ministerin der Justiz, welche auch heute noch in der bekannten Tradition steht, gegen rechts untätig zu sein und gegen links mit Sonderrechten vorzugehen.

Kein Mensch muß die Freiheit für Irmgard Möller fordern und zugleich mit der Praxis der bewaffneten Politik einverstanden sein: die Freilassung muß auch nicht von irgendwoher erbeten werden, nur weil die Haftzeit nun schon so lange andauert. Nein, wem die Rassisten- und Faschistenfreundlichkeit der deutschen Juristerei und ineins die „Hartleibigkeit“ gegen politische Gefangene von links ein Skandal ist, der kann und sollte sich ruhig einmal näher an die „begreifbare Kritik an der Gesellschaft der RAF-Revolte ...“ wagen. Und zur Kentnis nehmen, wie unvermutet vertraut der damalige Aufbruch zur eigenen Empörtheit dem Motiv nach doch ist. Der kann auch den Bettel fortwerfen und die Freilassung entschieden fordern; mit moralischem Anspruch, und politisch: zu Recht!

Die klammheimliche Scham in Giordanos Haltung fand übrigens jüngst eine interessante Parallele innerhalb der taz-Leserschaft: da wurde einem couragierten süddeutschen Polizeibeamten (ansonsten wohl eher „Bulle“ genannt) innerhalb kürzester Zeit die Summe von 12.000 Mark gespendet; eine Summe, wie sie so kurzfristig wohl keine Hilfsorganisation – wie etwa die „Rote Hilfe“ – einfahren kann. G. Goldammer, Celle

Welche juristischen Maßstabe werden da angelegt, fragt Ralph Giordano, wenn Irmgard Möller bereits 25 Jahre einsitzt, wo doch kein einziger NS-Täter jemals so lange gesessen hat. Und er führt das auf eine ungleiche Sichtweise der Justiz auf die TäterInnen zurück.

Ralph Giordano sollte seinen Blick einmal auf die Opfer der jeweiligen TäterInnen lenken. Die Opfer von NS-Tätern waren deutsche, niederländische, polnische und sowjetische Juden. Und nun richte er sein Augenmerk auf die Opfer der RAF: Schleyer, Ponto, Herrhausen, von Braunmühl und Rohwedder.

Ralph Giordano wird doch einsehen, daß zum Beispiel die Ostjuden nicht verglichen werden können mit Schleyer und Herrhausen. Es kommt immer darauf an, wer das Opfer ist. Wer Juden und Jüdinnen umbringt und dabei „auch noch bemüht gewesen ist, die Form zu wahren“, bekommt für 526 Morde nur drei Jahre. Würden die neuen Nazis Wirtschaftsbosse anzünden und totschlagen anstatt TürkInnen und Afrikaner, die ganze Härte der deutschen Justiz hätte sie bereits getroffen.

[...] Dieser Staat bestand schon immer aus einer mächtigen Wirtschaft, einem geldgeilen Klerus, inkompetenten machtlosen Politikern und einer willfährigen Justiz. Wer es wagt, die Repräsentanten dieses Klüngels, für dessen Erhalt wir mittlerweile fast 50 Prozent unseres Einkommens zahlen, auch nur anzukratzen, wird unnachgiebig verfolgt und bestraft. Ein paar tote AusländerInnen stören nur ein wenig die Optik.

Und nun wissen wir, warum Irmgard Möller immer noch im Knast sitzt, nicht jedoch die NS- Massenmörder. Sandra Holler, Hamburg