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Frankreichs Nostalgiesommer

Während Frankreich immer neue Jahrestage seiner Befreiung zelebriert, wächst in beängstigender Stille der Schatten des Algerienkrieges und die Furcht vor der Gewalt  ■ Aus Paris Dominic Johnson

Wenn sie können, fahren die Pariser im Sommer fort. Abgesehen von jenen Menschen, die freiwillig sehr viel Geld zahlen, um die französische Weltstadt zu besuchen, sind hier um diese Jahreszeit nur Alte und Arme, Einwanderer und Einheimische ohne Perspektive zu finden. Die Menschenmengen um das Warenlabyrinth „Tati“ im Kiez von Barbès bleiben sommers wie winters ein vertrautes Wahrzeichen der Stadt. Afrikanische Marabouts offerieren ihre ständig wachsenden Fähigkeiten: „Sofortige und definitive Rückkehr der geliebten Person innerhalb einer Woche garantiert“, preist sich auf Hunderten winzigen Handzetteln in der Metrostation ein „Maitre Ousmane“ an, wo früher einfache Heilerdienste ausreichten.

Es ist Freitag, also Feiertag, und in den stilleren Seitengassen blicken die Bettlerfrauen vom Boden zu den Passanten auf; Wachstuchverkäufer bitten zurückhaltende Kunden in ihren Laden; Gläubige stehen vor dem Eingang eines heruntergekommenen „Islamischen Zentrums“ herum und mustern Nähertretende mit irritierten und zugleich abweisenden Blicken. Es sind Araber und Afrikaner, die hier aus dem Bethaus kommen, und in der seltsamen Verkehrung des Pariser Sommers lassen sie den Eindringling spüren: Hier ist Rest- Paris unter sich. „Andauernd kommen Leute wie Sie und wollen filmen“, ärgert sich in der benachbarten „Afrikanischen Buchhandlung“ ein hochgewachsener Schwarzer; von Filmen war zwar keine Rede, dennoch ist der Ton gegeben: Reden wird niemand, und zu sehen gibt es sowieso nichts.

Hochburgen der Islamisten gibt es in Paris nicht viele, aber das Viertel Barbès-Goutte-d'Or ist eine davon. Winzig kleine gemalte Buchstaben wie FIS oder AIS, „Islamische Heilsfront“ oder „Islamische Armee des Heils“ – die Namen der verbotenen islamistischen Partei Algeriens und ihres bewaffneten Flügels – zieren frischgestrichene Wände zwischen viel größeren bunten Graffitigemälden. Auf den Straßen herrscht eine merkwürdige Atmosphäre der Abschottung und des Schweigens.

Nicht nur die Islamisten sind stumm. Das „Maghreb-Dokumentationszentrum“, in dessen Schaufenster Schriften mit vermutlich als Provokation der ungeliebten Nachbarn gemeinten Titeln wie „Der Feminismus im Maghreb“ ausliegen, ist geschlossen: Sommerferien. Das gegenüberliegende Büro des „Französisch-Algerischen Freundschaftsvereins für den Triumph der Moderne und der Demokratie in Algerien“ ist offen, aber der Diensttuende will partout nichts sagen, auch nach mehrmaligen Telefongesprächen nicht. Im September solle man sich wieder melden, heißt es; der Vorsitzende sei verreist. Die Flugblätter mit Titeln wie „Stopp dem Terrorismus“ und Aufrufen an die Algerier, „massenhaft“ in Algerien Urlaub zu machen, um die Wirtschaft anzukurbeln und dem Regime zu helfen, liegen stapelweise aus, aber der Diensttuende bleibt stumm, auch wenn er den Eindruck erweckt, daß er eigentlich gerne etwas Wichtiges sagen würde. Das Schweigen hat seine Gründe. Seit am 6. August fünf Franzosen in Algerien von radikalen Islamisten umgebracht wurden und zwei französische Minister der algerischen Militärregierung auf Blitzreise ihre Unterstützung versicherten, trocknet Frankreich aus, was es an islamistischem Sumpf im Lande orten kann: hetzerische Prediger, bärtige Waffenschmuggler, aufrührerische Exilanten.

Vor wenigen Tagen wurde in einer Straße unweit der Goutte-d'Or ein Imam verhaftet. – Das heißt, die französischen Behörden wollen ihn ausweisen und halten ihn zu diesem Zweck wie zwei Dutzend andere unter „Hausarrest“ in einer alten leerstehenden Kaserne in einem nordfranzösischen Flecken namens Folembray fest. Ein portugiesisches Fernsehteam, das sich daraufhin vor dem „Islamischen Zentrum“ in der Goutte-d'Or auf die Straße stellte und Außenaufnahmen machte, wurde von einem Barbès-Bewohner mit gezücktem Messer unter der Kutte aufgefordert, sich gefälligst so zu verhalten, wie es hier gewünscht wird: nämlich überhaupt nicht. Daher also der drohende Hinweis des mißtrauischen Buchhändlers auf Leute, die „filmen“ wollten.

Eine Gemeinschaft gibt sich wie im Belagerungszustand, ihr Imam sitzt in Haft in Folembray, und seine Anhänger haben sicherlich in den französischen Fernsehnachrichten das Transparent mit der Aufschrift „Konzentrationslager Folembray“ gesehen, das kurzzeitig aus dem Kasernenfenster hing. Anwälte und Menschenrechtsvereinigungen wettern in der Presse gegen „Internierungen“ und fordern ein rechtsstaatliches Verfahren, und ein algerischer Journalist schreibt: Folembray ist das französische Gegenstück zu den südalgerischen Lagern, in denen nach dem Militärputsch von 1992 Tausende Aktivisten der FIS verschwanden. Wie können da die Radikalen unter den Muslimen von Barbès meinen, sie lebten in einem zivilisierten, demokratischen Land? Sie wähnen sich im Krieg.

Und tagtäglich bekommen sie Bestätigung. Frankreich kämpft mit Algerien – doch es ist kein klassischer militärischer Konflikt, sondern das Schattenboxen einer verblichenen Großmacht mit seinem ungeliebten Bastard.

In Folembray sitzt auch Djaffar El Houari, der Präsident der „Französisch-Algerischen Bruderschaft“ (FAF), die als französisches Aushängeschild der algerischen FIS gilt. Er beschwört den „Geist von 1954“, als mit dem Aufstand von Algier der algerische Unabhängigkeitskrieg gegen Frankreich begann, und lobt den französischen Premierminister Edouard Balladur. Der hat nämlich in einem Rundfunkgespräch Revolutionäres gesagt: „Wir wünschen, daß die Algerier ihre Probleme lösen... Es ist nicht Frankreichs Aufgabe, den Algeriern zu sagen, wie sie das machen sollen.“ Nichteinmischung also und gleich darauf die Vorgabe, es solle „einen Dialog zwischen allen Parteien“ geben – also auch mit der verbotenen FIS.

Balladur, wie ganz Frankreich, fürchtet den Schatten des Algerienkrieges der fünfziger Jahre, der Frankreich an den Rand eines Militärputsches brachte. Kann die Fünfte Republik, die General de Gaulle zum Höhepunkt der Krise 1958 errichtete, vermeiden, was die im Kolonialkrieg verschlissene Vierte Republik zu Fall brachte? „Frankreich muß Algerien verlassen“, titelt in ihrer Wochenendausgabe die populärste Zeitung von Paris, Le Parisien, und gibt eine Umfrage wieder: 54 gegen 34 Prozent wünschen ein Ende der französischen Präsenz in dem nordafrikanischen Land, in dem seit zweieinhalb Jahren Bürgerkrieg herrscht. Als wäre Algerien immer noch Kolonie.

Seit dem 6. August herrscht eine unterschwellige Angst: Die Gewalt in Algerien, an die man sich schon gewöhnt hatte, könnte aus dem unruhigen heißen Maghreb nach Frankreich herüberschwappen. Aber die politische Diskussion ist nicht von der Angst bestimmt. Dieser Sommer ist ein französischer Nostalgiesommer, in dem sich die düstere Erinnerung an den Algerienkrieg mischt mit den Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag der Befreiung Frankreichs von deutscher Besatzung. Seit dem Mediengetöse zum D-Day-Jahrestag am 6. Juni vergeht kein Tag ohne Sondersendungen oder Sonderartikel, die das Jahr 1944 bis in das letzte französische Hirn dringen lassen sollen. „1944–1994, der Sommer der Freiheit“, nennt das Pariser Regionalfernsehen seine Erinnerungsreihe. Balladurs Algerienbemerkung erfolgte am Wochenende des 14. August, an dem die Landung der Alliierten in der Provence gefeiert wurde. Damals bestand das französische Kontingent zum großen Teil aus Afrikanern – schwarzen und maghrebinischen. Bewaffnete Algerier, die Frankreich befreien? Soweit will dann doch keiner denken.

Und der französische Premierminister betreibt in seinem Rundfunkgespräch dann noch ein dickes Maß Geschichtsklitterung: Die Befreiung Frankreichs sei „auch durch die Einheit unserer Nation und die Einheit, die alle Franzosen in dieser schweren Zeit bewiesen“, mit ermöglicht worden. Wie das, die Einheit aller Franzosen? Ist der Prozeß gegen den Vichy-Milizenchef Paul Touvier schon vergessen? Kollaborateure gegen Résistance – nie gehört?

Wie würdelos, brutal und indifferent Frankreich während des Algerienkrieges mit seinen Algeriern umging – das zu wiederholen würde genau die Eskalation der Gewalt heraufbeschwören, zu deren Verhinderung die Behörden jetzt Islamisten verhaften.

Noch ist es nicht soweit. Es gibt zwar die opérations de sécurisation: Jede Nacht finden in Paris und anderen Großstädten Polizeikontrollen statt, bei denen Beamte mit orangefarbenen Umhängen, wie sie anderswo die Müllmänner tragen, Passanten und Autos anhalten und Papiere anschauen. Terroristen finden sie dabei keine, höchstens besoffene Touristen und illegale Einwanderer. Aber es beruhigt. Die Mehrheit der Franzosen hält die Kontrollen für richtig und wichtig.

„Wir sind noch nicht am Ende der Entwicklung angelangt“, fürchtet Dalil Boubakeur, Rektor der Großen Moschee von Paris und wichtigster Muslimführer Frankreichs. „Die Muslime müssen sehr wachsam sein, damit sie keine weiteren Reaktionen provozieren,“ sorgt er sich im üppigen Garten seiner Moschee. „Es gibt vier Millionen Muslime in Frankreich, und die überwiegende Mehrheit will einfach normal und friedlich in Frankreich leben. Wenn man in ihnen Zweifel entfacht, schafft man ein ekelhaftes Klima. Es besteht das Risiko, daß alles ins Schleudern kommt, wie zur Zeit des Algerienkrieges. Der Unterschied ist heute, daß die Radikalen eine Minderheit sind.“

Fühlen sich Frankreichs Muslime entfremdet? „Die plötzliche Härte Frankreichs hat Erstaunen und auch Zukunftsangst ausgelöst“, sagt Boubakeur – und es ist deutlich zu sehen, daß er, Mitglied der Pariser Elite und privilegierter Ansprechpartner des französischen Staates, das Erstaunen der französischen Muslime teilt.

Bringt die Zukunft mehr als bloße Angst? „Die FIS wird leben“, heißt es auf den Häuserwänden der Goutte-d'Or. Boubakeur spricht lieber von „Bewegungen, die sich mit den Ereignissen in Algerien identifizieren“. Gemeint ist dasselbe: Was auf der anderen Seite des Mittelmeers geschieht, kann Frankreich nicht unberührt lassen. Wie mitten in den großen Ferien damit umgegangen wird, ist schemenhaft zu erahnen. Paris nimmt Urlaub. Der Staat feiert vergangene Zeiten und schickt ansonsten die Polizei voraus. Die Betroffenen schweigen, und wer spricht, äußert Furcht.

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