Die Reaktionen aus Moskau müssen ernst genommen werden

■ Wenn Proliferation wirklich verhindert werden soll, müssen die fünf Atommächte internationaler Kontrolle zustimmen

Nun hat Präsident Boris Jelzin – so heißt es wenigstens in Bonn – in seinem noch immer nicht veröffentlichten Schreiben an Bundeskanzler Kohl vom Mittwoch eingeräumt: daß das jüngst in Deutschland beschlagnahmte Plutonium aus russischen Anlagen stammt. Und dennoch, die ursprünglichen Dementis und die empörten Reaktionen russischer Politiker, Wissenschaftler oder Geheimdienstler auf die Erklärungen der bayerischen Behörden vom Montag dürfen deswegen nicht einfach zu den Akten gelegt werden. Denn sie offenbaren einen hohen Grad der Empfindlichkeit und tiefes Mißtrauen gegen alles, was sich irgendwie als Versuch westlicher Einmischung oder gar deutscher Kontrolle der russischen Atomanlagen interpretieren läßt – möglicherweise gar mit dem Ziel, die Anlagen abzuschalten und durch westliche Technologien zu ersetzen.

Ob solche Absichten im Westen tatsächlich existieren – und zumindest das Auftreten von Kohl und Kanzleramtsminister Schmidbauer erweckt diesen Eindruck –, ist für die Wahrnehmungen auf russischer Seite weitgehend irrelevant. Denn sie sind Ausdruck tiefer Verunsicherung angesichts der anhaltenden schweren politischen und wirtschaftlichen Krisen seit dem Zerfall der Sowjetunion. Wer tatsächlich die Proliferation von Plutonium und anderen Atombombenstoffen wirksam verhindern will, muß diese Empfindlichkeiten in Kauf nehmen.

Wenn überhaupt, wird eine effektive Kontrolle von Atomanlagen nur nach den Prinzipien der „Kooperation“ und des „Multilateralismus“ gelingen. Dafür gibt es ein völkerrechtliches Instrument: den Atomwaffensperrvertrag von 1968. Allerdings hat dieser Vertrag einen Schönheitsfehler. All seine Vorschriften zur Überwachung und Kontrolle von Atomanlagen, mit deren Durchführung die Internationale Atomenergiebehörde in Wien beauftragt wurde, gelten bislang nur für 159 der inzwischen 164 Unterzeichnerstaaten des Vertrages. Die fünf offiziell anerkannten Atomwaffenstaaten USA, Sowjetunion, China, Frankreich und Großbritannien setzten bei den Vertragsverhandlungen seinerzeit durch, daß weder ihre zivilen noch ihre militärischen Atomanlagen irgendwelchen Kontrollen unterworfen werden.

Diese Ungleichbehandlung durch den Atomwaffensperrvertrag wird von Staaten des Südens wie von unabhängigen Friedensorganisationen im Norden zunehmend kritisiert, ebenso wie die mangelnde Bereitschaft der fünf Atommächte, ihre in Artikel 6 des Sperrvertrages eingegangene Verpflichtung zum vollständigen Abbau ihrer Atomwaffenarsenale zu erfüllen. Die letzte Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrages 1990 in Genf scheiterte am Dissens über diese beiden Fragen. Um der wachsenden Kritik etwas den Wind aus den Segeln zu nehmen, boten die USA inzwischen an, einige ausgesuchte zivile Atomanlagen auf ihrem Territorium durch Experten der Wiener Atomenergiebehörde inspizieren zu lassen. Doch weder die USA und Rußland noch China, Großbritannien oder Frankreich ließen bisher Bereitschaft erkennen, den Atomwaffensperrvertrag auf der kommenden Überprüfungskonferenz im April 1995 in New York um Bestimmungen zur verbindlichen Kontrolle ihrer Atomanlagen zu ergänzen. Eine Änderung des Vertrages aber ist nur mit einer Zweidrittelmehrheit der Unterzeichnerstaaten und bei Zustimmung aller fünf Atommächte möglich. Selbst entschiedene Kritiker der fünf Atomwaffenstaaten befürchten zudem, daß Verhandlungen über Veränderungen des Sperrvertrages bei den Kontrollvorschriften dann auch Änderungswünsche zu anderen Vertragsartikeln nach sich ziehen. Am Ende könnte das ganze Abkommen erheblich verschlechtert werden oder gar seine Verlängerung, über die auf der Überprüfungskonferenz entschieden werden muß, scheitern.

Doch auch unterhalb der Ebene einer formalen Änderung des Atomwaffensperrvertrages gäbe es politische Handlungsmöglichkeiten, um die Gefahr der Proliferation atombombenfähiger Materialien – sei es aus Rußland oder aus anderen Staaten – wirksam einzudämmen. So könnten die fünf Atommächte spätestens bis zur New Yorker Überprüfungskonferenz eine Vereinbarung treffen, ihre Atomanlagen auch ohne völkerrechtliche Verpflichtung überwachen zu lassen: durch gegenseitige Inspektionen oder besser noch durch Kontrollen der Wiener Atomenergiebehörde.

Mit der Initiative für eine solche Vereinbarung – alleine oder mit dazu durchaus bereiten Staaten etwa Skandinaviens – nähme Deutschland „internationale Verantwortung“ im wohlverstandenen Sinne wahr. Andreas Zumach, Genf