■ Zwischen den Welten
: Soziale Kälte

Seit Mitte der fünfziger Jahre kommen deutsche Aussiedler aus Osteuropa und der vormaligen Sowjetunion in die Bundesrepublik. Auf der Basis des Grundgesetzes werden sie als deutsche Staatsbürger anerkannt. Diese rechtliche Konstruktion beruht auf der Tradition des „ius sanguinis“, gilt jedoch als „Kriegsfolgenrecht“ nur für Deutsche aus Osteuropa und den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion.

Bis gegen Ende der achtziger Jahre ging die Aufnahme deutscher Aussiedler in der Bundesrepublik von der Öffentlichkeit nahezu unbeachtet vor sich. Erst als ihre Zahl ab 1988 sprunghaft zunahm, wurden sie, auch im Zusammenhang mit der Debatte um Zuwanderung und das Asylrecht, zum Thema. Diese Diskussion machte mehr als deutlich, daß der Abgrenzung von potentiellen und bereits hier lebenden Zuwanderern ein weitaus höherer Stellenwert eingeräumt wurde als Überlegungen zu ihrer Aufnahme und Integration. In politischen Debatten fanden sich Ausländer, Aussiedler und Asylbewerber nicht selten gegeneinander ausgespielt.

Der Umbruch in Osteuropa und der Zerfall der Sowjetunion haben neue Zeichen bei der Zuwanderung von Aussiedlern gesetzt. In den Ländern Osteuropas nahm der Druck auf Deutsche ab und die Grenzen wurden durchlässig. Nicht zuletzt wegen der erschwerten Einreisebedingungen von seiten der Bundesrepublik (Aussiedler aus osteuropäischen Ländern, nicht aber aus der vormaligen Sowjetunion, müssen seit dem 1. 1. 1993 individuell nachweisen, daß sie als Deutsche Benachteiligungen ausgesetzt sind) gingen die Aussiedlerzahlen seit 1992 drastisch zurück.

Ganz anders sieht die Situation in den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion aus. Als Folge der Perestroika wurden die Ausreisegesetze gelockert, was es zahlreichen Deutschen ermöglichte, das Land zu verlassen. Seit Beginn der neunziger Jahre ist die Abwanderung der Rußlanddeutschen (wie sie sich selbst nennen, ganz unabhängig davon, ob sie zum Beispiel in Kasachstan oder in der Ukraine leben) zu einem Massenphänomen geworden. Eine Vielzahl miteinander verwobener Gründe ist dafür verantwortlich: die politische Instabilität, die zunehmenden ethnischen Konflikte, der wirtschaftliche Niedergang und die Furcht vor ethnischer Diskriminierung. Zudem entwickelt die Ausreisebewegung aufgrund der Familienzusammenführung eine starke Eigendynamik. Bereits ausgereiste Familienmitglieder ziehen immer weitere nach, niemand will „zu spät kommen“.

In der bundesdeutschen Öffentlichkeit ruft diese „Rückwanderung nach Generationen“ Erstaunen, oft auch Abwehr hervor. Es erscheint anachronistisch, daß die Nachfahren deutscher Auswanderer, deren erste Gruppe vor über 200 Jahren nach Rußland zog, sich bis heute als Deutsche empfinden. Dies um so mehr, als die Rußlanddeutschen in der vormaligen Sowjetunion ihre eigenen sprachlichen, kulturellen und religiösen Traditionen weitgehend verloren haben. Die deutsche Sprache wird zwar von vielen als Muttersprache empfunden, die tatsächlichen deutschen Sprachkenntnisse sind jedoch gering. Nur die älteren beherrschen noch die bilderreiche Dialektsprache ihrer Vorfahren, die aber auch im heutigen Deutschland kaum jemand mehr versteht.

Diese zwiespältige Situation wird mit einem Blick auf das Schicksal der Deutschen in der Sowjetunion etwas besser verständlich. Mit dem deutschen Angriff auf die UdSSR im Jahre 1941 wurden die Rußlanddeutschen aufgrund ihrer nationalen Zugehörigkeit in den hohen Norden, den Osten des Landes sowie nach Kasachstan und Mittelasien deportiert. Die Wolgarepublik, ihre territoriale Autonomie, wurde aufgelöst, die Verwendung der deutschen Sprache in der Öffentlichkeit verboten. Dies zerstörte nicht nur ihre traditionellen Siedlungsstrukturen, sondern machte es auch auf Jahrzehnte hinaus nahezu unmöglich, eigenkulturelle Werte zu bewahren. Obschon sich die Situation der Deutschen in der vormaligen UdSSR seit den siebziger Jahren schrittweise verbessert hat, bleiben diese traumatischen Erfahrungen lebendig und werden auch an Kinder und Enkelkinder weitervermittelt.

Rußlanddeutsche haben oft ein unrealistisches, bereits über Generationen überliefertes Bild von Deutschland, das mit der Realität der bundesrepublikanischen Gesellschaft wenig zu tun hat. Besonders in ihrem Wunsch, als „Deutsche unter Deutschen“ zu leben, sehen sich viele enttäuscht.

Die Integration der rußlanddeutschen Aussiedler in die bundesdeutsche Gesellschaft verlief bis gegen Ende der achtziger Jahre, nicht zuletzt aufgrund der großzügigen materiellen Eingliederungshilfen, relativ problemlos. Die meisten fanden eine Arbeit und eine Wohnung. Dennoch fällt bereits bei dieser Gruppe von Aussiedlern auf, daß die privaten Kontakte zu Einheimischen selten sind und daß sie mit den zwischenmenschlichen Beziehungen der bundesdeutschen Gesellschaft nur schwer zurechtkommen. Das Stichwort „soziale Kälte“ umfaßt wohl am besten, was rußlanddeutschen Aussiedlern im bundesdeutschen Alltag zum Problem wird.

Seit Beginn der neunziger Jahre hat sich die Integrationssituation der Rußlanddeutschen merklich verändert. Während ihre Zahl deutlich zunahm (zwischen 1990 und 1993 kamen mehr als 600.000 in die Bundesrepublik), wurden die materiellen Eingliederungshilfen stark gekürzt und die Ablehnung rußlanddeutscher Zuwanderer seitens der einheimischen Bevölkerung nahm zu. Sie sind nun im Alltagsleben stärker präsent und werden als Konkurrenten um Arbeit und Wohnraum gesehen.

Das Spannungsverhältnis nimmt auch zu, weil rußlanddeutsche Zuwanderer die Erwartungen nicht erfüllen können, die Bundesbürger an sie als „Deutsche“ stellen. Ein erster Schritt zum Aufbrechen dieser Barrieren wäre es, ethnische Identität als vielschichtig zu akzeptieren und die bislang „fernen Deutschen“ stärker ins gesellschaftliche Leben einzubeziehen. Barbara Dietz