Gone west: So what now

Ein östlicher Blick aus dem Westen auf West und Ost: Eine Philippika  ■ Von Joachim Walther

Kein Heimweh nach Deutschland. Und Iowa ist nicht der abenteuerlichste Teil der USA. Die Heimat aus der Ferne: das wohlhabende Jammertal, aus dem nur üble Kunde dringt. Mein mißgelauntes Volk, marode, maulend, demoralisiert, ohne Optimismus und Vision, ohne Lust auf Zukunft, doch auch die gelebte Gegenwart ist freudlos, der Genuß des Augenblicks gedämpft. Die Nation in sich zerstritten und mitten im verbalen Bürgerkrieg zwischen Ost und West. Die Freudentränen vom November 1989 sind lange versiegt, die Euphorie umgeschlagen in Verdruß, die Sympathie in Aversion: zu exaltiert die Rührung damals. Ein Vereinigungsorgasmus, von dem keine Liebe blieb. Ejaculatio praecox. Die von Sekt und Tränen feuchten Nächte damals: heute peinlich.

Hier an Grinnell in Iowa zog Mitte des letzten Jahrhunderts der Mormon Trail vorüber ins gelobte Salt Lake Valley. Die anderen großen Trails weiter südlich, nach Oregon, Santa Fé und Kalifornien. Nun hat der gesamte Ostblock den Weg gen Westen angetreten. Einige sind noch unterwegs.

Die aber, die den kürzesten und komfortabelsten Weg hatten, lamentieren am lautesten, humpeln demonstrativ und zeigen eine Blase an den Füßen vor, als sei's bereits das Zahnfleisch, auf dem sie kröchen: die Deutschen.

Die per Geschichtsentscheid schon länger westlich Siedelnden sind mittlerweile alles andere als erfreut über die östlichen Hinzukömmlinge. Mürrisch sitzen sie vor ihren tiefen Suppenschüsseln und leihen den eben Angereisten die langen Löffel nicht, die nötig sind, um nicht hineinzufallen in die eingebrockte Suppe. Die vollen Schüsseln dampfen, und es scheint, als sei der Dampf der Sinn. Wenn nicht, macht auch nichts, es läßt sich auch ohne leben, eingesponnen im Kokon. Aus dem seidenweichen Innern grummeln sie grämlich, die germanischen Seidenraupen, und räsonieren über alles außerhalb des Kokons, sägen näselnd an dem jungen Ast, auf dem sie sitzen. Es ist, als triebe sie eine masochistische Freude, die demokratischen Regularien, die vor der blanken Barbarei bewahren, verächtlich zu machen und gering zu schätzen. Und es sind gerade jene, die dieses zivilisatorische Regelwerk am dringendsten nötig haben, die mit dem verkümmerten Bizeps, deren gute Sitten an den Wohlstand und das Abfedern der sozialen Unterschiede gebunden ist, die Intellektuellen. Suizidaler Übermut à la mode. „Thatenarm und gedankenvoll“, von dieser Klage Hölderlins ist nur der erste Teil geblieben. Der scharfe Widerspruch?

Zum Ressentiment verkommen, stumpf. Rigoros nur, wenn es um das Eigene geht, da schießt noch einmal Röte in die Wangen. Leidenschaft kommt auf, wenn's darum geht, den Anspruch anzumelden, versorgt zu werden vom Übervater Staat, den man nicht mag und übers Ohr haut, wo immer er's nicht merkt. Gemeinsinn, soziales Engagement? Vokabeln aus sentimentaler Vorzeit. Res publica: Kann man das essen? Verantwortung fürs Ganze? Eine Floskel, die nach Steuer klingt. Der Zeitgeist raunt vom Ende aller Utopien und der Geschichte gar, und die Zeitgeist-Wellenreiter halten diesen Brandungsschaum für das Donnern des Weltgeistes. Oben, unten, links, rechts, vorn, hinten: beim Salto rückwärts alles eins. Wer Moral sagt, ist selbstverständlich ein moralinsaurer Moralist und von gestern, wenn nicht von vorgestern. Erlaubt ist alles, wer sich erwischen läßt, ist selber schuld. Der Erfolg schafft das Recht, die List gilt als Tugend.

Nicht nur im Osten ist etwas verschwunden. Auch dem Westen ist etwas abhanden gekommen: der Gegner, an dem er sich maß und in der Negation definierte. Markt contra Marx: entschieden. Der Gegensatz gab die Werte vor. Und nun? Der Zuwachs schuf paradoxerweise ein Defizit. Jetzt muß der Übriggebliebene in sich schauen, ob da was ist an inneren Werten, die weitertragen als bis zum nächsten Beinahe-Bankrott. Da auch das Fundament der christlichen und zivilisatorischen Werte bröckelt, die Moral derweil in aller Stille bestattet wird und es hörbar knistert im Parteien-Staat darüber, herrscht verwirrte Leere. Dem einzelnen wird keine Antwort auf seine Frage: wozu? gegeben. So muß nun jeder selber sehen, wo er bleibt, weshalb ein jeder in sich selber sucht, da sich kein Halm zum Klammern findet, und gezwungenermaßen selbst bestimmt, was ihn leiten soll. Jedermann sein eigener Gesetzgeber. Sein eigener Weltbildner. Seines eigenen Glückes Schmied, scharf abgegrenzt von dem des Nebenmenschen. Das verbindende Verbindliche schwindet: ein vereinigtes Volk von Einzelkämpfern. Minimalkonsens, kategorischer Imperativ, bye, bye. Cocooning als verdeckter Krieg. Wer gegen wen? Alle gegen alle.

Nun aber zu den westwärts ziehenden Ostdeutschen. Da ist die Stimmung noch übler, obwohl das kaum möglich scheint. Sie kenn' ich besser, da ich selber einer bin.

Wir unterscheiden uns von den eingeborenen Westdeutschen, die in einem geräumigen, zum Atlantik hin offenen Freigehege aufgezogen wurden, durch die unübersehbaren Folgeschäden der intensiven Käfighaltung. Wir sind ein wenig blaß und nicht so leicht zu Fuß. Wir wollten raus, verständlich, doch daß nun einige wieder rein wollen und im Phantomschmerz nach Papa Staat und Mama Partei schreien, will mir nicht in den Kopf. Sie wählen im Zorn, enttäuscht zu sein von ihren eigenen hochgespannten Projektionen und den Illusionen, die ein schwergewichtiger wie leichtzüngiger Kanzler weckte, eine Partei, deren Wahlkampf einer leitet, der Schlüssel für Mielkes Mannen in Seife drückte. Wo? Auf dem Klo. Das, Landsleute, ist wahrlich wackerer Protest! Immer feste druff, da, wo's denen drüben wirklich wehtut, weil Euch von ihnen wehgetan wurde, Zahn um Zahn, und wenn's der letzte ist!

Und die Dichter und Denker, die es im Osten auch gegeben hat, wiewohl manch Westler meint, die wären alle Kollaborateure des Systems gewesen? Nicht wenige, die vormals Mut bewiesen zur Kritik, reden nun von einer Identität, die ihnen genommen worden sei. Ich versteh schon wieder nicht, obwohl auch ich dort gelebt habe. 40 Jahre. Exakt 40 Jahre zuviel. Ich grüble und ich grabe: Was ist das nur, diese DDR-Identität? Ich seh', sie rücken zusammen und kuscheln sich aneinander. Zugegeben, die Westwinde sind kalt und die Haut dünn. Doch deshalb diese Wärmestuben, die an DFD und Volkssolidarität erinnern? Und der Salto rückwärts im Kopf, dieses Heimweh nach einer imaginierten Zukunft, das rabulistische Argument, der Sozialismus sei nicht gescheitert, da es ihn, den eigentlichen, den wahren und den reinen noch gar nicht gegeben habe? Eine Phantasmagorie, rückwärtsgewandte Fata Morgana, die den Dschungel als Wüste halluziniert. Sie stochern in der Asche, die übrig blieb vom Roten Turm zu Babel, und versuchen, wenn schon nicht Glut, so doch einen Funken zu finden, um ihn wieder anzublasen zur revolutionären Flamme. Auch deshalb die verrußte Düsternis und der verdunkelte Himmel über Ostdeutschland: Flugasche vom emsigen Pusten. Wer nicht mitpustet, gehört nicht mehr dazu. Bleibt draußen. Darf nicht rein in die ideologisch bewimpelten Wagenburgen. Wer weiterzieht gen Westen verrät die Identität, bricht die Solidarität und wird beschossen, vorerst mit Früchten, deren Frischegarantie lange abgelaufen ist. Die Wagenburgler haben den Treck abgebrochen, sie weigern sich weiterzuziehen und pflegen ihre Identität, die stärker wird, je länger sie trotzig beieinanderhocken. Ideologie statt Ideen. Ideologie verbindet, wärmt und schützt vor Winden, die ins Gesicht blasen. Fatalerweise flüchten sich in diese Wagenburgen auch jene, die unverschuldet in Not geraten sind und nun meinen, persönlich schuld zu sein, was andere ebenso wie sie betroffen hat. So finden sie Trost. Nun wollen sie nicht mehr wissen, weshalb sie einst aufgebrochen sind. Die neue Not ist's, die sie drückt. Und weil auch die blind macht, sehen sie nicht, wie andere, die ein Interesse daran haben, den Rollrasen des Vergessens über die jüngste Vergessenheit zu breiten, ihren Unmut dazu nutzen, um Geschichte zu entsorgen und sich selbst zu recyceln.

Was eben diese jüngste Vergangenheit betrifft und deren Aufarbeitung, da geht's im Osten am kuriosesten zu. Kürzlich meinte ein langjähriger und fleißiger Ex-IM im Brandenburger TV, als ich ihn einen langjährigen und fleißigen Ex-IM genannt hatte, er sei von mir enttäuscht, menschlich, zutiefst. An dieser Stelle entwich meinem Hirn eine Sprechblase mit nichts als einem Fragezeichen. Mein unterm Codenamen „Schreiberling“ operativ bearbeiteter Kollege mußte sich von seinem Spitzel „Heinrich“ sagen lassen, er sei lite

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rarisch ausgebrannt und lebe nun vom Denunzieren der Kollegen. Das alte Lied, der Spieß gewendet: das Nennen des Denunzianten eine Denunziation. Wer einmal in der FAZ was schreibt, wird flugs als rechts etikettiert. Ein Verriß im Spiegel ist bereits eine Kampagne jener Diversionszentrale des Westens, die immer beschworen, doch nie geortet wurde. Sagt einer aus dem Osten über den Osten etwas Böses, was auch ein Westler hätte sagen können, so ist er ein Nestbeschmutzer. Das war er schon, als dieses Nest noch in der Astgabel des kommunistischen Weltbaumes klemmte. Doch war es da nicht schon randvoll mit Unrat? Nun ist der hohle Baum gefallen. Von welchem Nest ist da die Rede? Wer als Ostler sagt, er sei noch immer froh, dem Osten entronnen zu sein, wird zum bestallten (und bezahlten) West-Claqueur gestempelt, der mithelfe, den Osten plattzumachen, seine Identität zu leugnen und alles Originäre, auch und gerade Kunst und Literatur, abzuräumen. Selbstverständlich aus Geldgier, wie wir schon einmal lasen: im Neuen Deutschland, als Bahro wegen seiner „Alternative“ verurteilt wurde.

Obwohl es grob fahrlässig ist, heute solches zu bekennen, da man in Verdacht gerät, einen Kotau vor den siegreichen Verhältnissen zu tun und die neuen Probleme zu leugnen, bekenne ich, keinen Tag die blühende Barackenkultur aus Wellasbest und Eternit zu vermissen, das tägliche Gegacker der Ideologieproduzenten und der vom Staatshahn getretenen Medien, das ständige Rätselraten in Runden über drei Personen, wer wohl Mielkes Leih- und Langohr sei, das lebenslängliche Verharren im Stande kindlicher Unmündigkeit, die gezuckerte Peitsche des Vormunds, die doppelten Zungen, den Verrat, das Leben in der Lüge, all das und noch mehr hab' ich satt für immer.

Wer genug hat vom geschlossenen Horizont und den Campanella-Sonnenstaatsideen, die bei Orwell enden, verrät seine Herkunft. Wer sagt, daß es eine Lust war, den armierten DDR-Staat in seiner Rüstung hilflos sterben zu sehen, wer bestreitet, daß dieser Staat ein bereits verwirklichtes utopisches Potential in sich trug und den erzwungenen Verzicht (der bei Strafe des Untergangs freiwillig geleistet werden muß) ein Unvermögen nennt und kein Programm, der leugnet auch das letzte Gute.

So geht es derzeit zu im Wilden Osten. Wobei dies weniger Ausdruck von Gewißheit denn von Verwirrung ist, da man noch immer nicht weiß, wie man nennen soll, was 1989 mit dem Land und seinen Landeskindern geschah. Wende? Friedliche Revolution? Implosion? Untergang? Umbruch? Besetzung des Territoriums der DDR durch den westdeutschen Imperialismus? Zusammenbruch? Übernahme? Beitritt? Konterrevolution? Kolonisierung?

Wenn es eine Wende war, so eine Zeiten-Wende. In Deutschland trafen zwei Zeiten aufeinander: westliche Weltzeit und östliche Binnenzeit. Die Mauer war eine Mauer gegen die Zeit, ein ebenso martialischer wie lächerlicher Versuch der in Schilda gebürtigen Genossen, die Zeit aufzuhalten. Ein Spalt in der Zeitmauer genügte – und die Weltzeit strömte ein als Flut, die die östliche Binnenzeit hinwegschwemmte von Wernigerode bis Wladiwostok. Die im Osten lebten, hatten die gesetzte Zeit, die eine verstaatlichte war und zum Ende hin stagnierte und fast stillestand, verinnerlicht und zu ihrem Biorhythmus werden lassen, und haben nun ihre liebe Mühe mit dem neuen Metronom, das schneller tickt, als sie die Tasten finden. Die im Westen sind im Takt geblieben, und mancher meint beim Anblick der aus dem Rhythmus gekommenen Ostler, er sei der Sieger dieses Wettbewerbs. Der Überlegene hat seine Zeit gesetzt und glaubt nun fatalerweise, diese gelte nun weltweit und für alle Zeiten bis ans Ende der Geschichte. Das allerdings könnte tatsächlich der Anfang vom Ende sein. Die Weltzeit ist wertfrei, sie egalisiert Grenzen und öffnet Räume, ohne sie mit etwas zu füllen außer dem Beschleuniger Geld. Das Geld verbindet Wirtschaftsräume, läßt aber die inneren Räume leer. Die Sinnfrage bleibt, es sei denn, das Geld nimmt sich selbst als letzten Sinn und hält eine für alle verbindliche Ethik und einen allseits akzeptierten Wertekanon für überflüssig, da sich das nicht rechnen läßt. Wer den Sieg der Weltzeit zum Sieg des Liberalismus stilisiert, übersieht die latente Gefahr: Die Barbarei wohnt dicht unterm bunten Hemd der Zivilisation.

Fraglos ist etwas Neues entstanden, doch ist es ohne Inhalt, bloße Form, sich selbst unkenntlich, eine Geschichte ohne Ende.

Während die improvisierte Handlung auf offener Bühne läuft, der Schluß noch nicht geschrieben ist, komme ich zurück. Ohne Illusionen. Doch nicht ohne jede Hoffnung.

Joachim Walther, geboren in Chemnitz, war Redakteur und Lektor in der DDR bis zum jeweiligen „Herauslösen“ (Stasi-Sprache), danach Freiberufler. Zahlreiche Romane und Erzählungen, Hörspiele, Radio-Essays. Zuletzt erschien: „Verlassenes Ufer“, Erzählungen, Forum-Verlag, Leipzig 1994. Derzeitiges Forschungsprojekt: „Mielke und die Musen – DDR-Literatur und Staatssicherheit“.