Im Bart wächst der Widerstand

Gesichter der Großstadt: Jugendsenator Thomas Krüger entblößte sich für Bundestag / Theater liegt dem gelernten Reifenwerker und Theologen  ■ Von Barbara Bollwahn

Thomas Krüger trägt gern Westen – schwarz, grau oder rot-blau kariert. Dennoch, für den Wahlkampf setzt er nicht auf seine weiße Weste, er hat sich vielmehr für die „ehrliche Haut“ entschieden. Denn Krüger hat die Aufforderung seines Parteichefs Rudolf Scharping, offensive Wahlkampfwerbung zu betreiben, wörtlich genommen und zur Rettung der Sozialdemokratie die Hüllen fallengelassen. Seitdem er mit Scharping zu Wendezeiten „bei einem guten Wein über alles geredet“ hat, hat er einen „guten Draht“ zu ihm, auch wenn er bedauert, daß sich der Kanzlerkandidat in der Öffentlichkeit „nicht optimal“ darstellt.

Um ihm zu zeigen, wie das geht, nahm der 1959 geborene Krüger dessen Aufforderung zu einem offensiven Wahlkampf wörtlich. Dank des Werbe-Drahtziehers Scharping wird ab Ende dieser Woche jede Pore, jedes Barthaar und jedes Gramm, das sich Italienfan Krüger (Umbrienfraktion) mit Pasta und Spaghetti angegessen hat, auf farbigen Plakaten zu sehen sein. Der studierte Theologe, der im Wahlkreis Friedrichshain/ Lichtenberg kandidiert, zeigt sich unter dem Slogan „Eine ehrliche Haut“ so, wie ihn Gott geschaffen hat.

Nackte Nahbarkeit

„Ein Sexsymbol bin ich wahrlich nicht“, urteilt er selbtkritisch. Trotzdem hat er seine inneren und äußeren Hüllen fallengelassen, um das zu zeigen, was für ihn in der Politik fehlt: das Persönliche. Der Unnahbarkeit vieler Politiker, die „entwerteten Göttern gleich wie Astrale in der Landschaft rumlaufen“, will er „Nahbarkeit“ entgegensetzen. Eitel sei er nicht; soll den Leuten sein Körper gefallen oder nicht, tut der selbstbewußte Jugendsenator kund. Entscheidend seien die Reaktionen zur Bundestagswahl, für die er einen sicheren Listenplatz hat. Jetzt reden die Menschen, die er zum Wahlgang ermuntern will, nicht mehr über ihn, sondern mit ihm. Genau das will er. Als „Signal für eine Reformpolitik“ hat er sich nach einigen schlaflosen Nächten durchgerungen, das umzusetzen, was für ihn Politik bedeutet, nämlich Akteur zu sein, und ließ die Hose runter. Nur der Bart blieb dran, dieses „Stück Widerstand“ à la russische Anarchie.

Der Mitbegründer der Sozialdemokratischen Partei in der DDR (SDP) attestiert sich, er habe ein Bewußtsein über das DDR-System erst nach seiner Armeezeit entwickelt, auch wenn er zuvor bereits mehrere Male wegen Flugblattaktionen für Have- und Biermann „vorläufig arretiert“ und einmal sogar erkennungsdienstlich behandelt wurde.

Erst spät merkte er, daß der Satz, den ihm sein Vater als neunjähriger gesagt hatte, „Der Mensch ist der Mittelpunkt“, in der DDR- Realität nur eine Phrase war. Solange malte das gutgläubige Christenkind, das Jockey werden wollte, rote Rosen für Mikis Theodorakis und schloß sich der Freien Deutschen Jugend an, aus der er während seiner Armeezeit wegen einer „wehrkraftzersetzenden“ Rede ausgeschlossen wurde.

Reifenwerkers Theaterliebe

Große Reden sind eigentlich nicht seine Sache. Der studierte Theologe ist mehr für das „gute Gespräch“, in dem er sein Gegenüber mit nach vorn gebeugten Schultern und vorstehendem Hals aus seinen grau-blauen Augen anschaut und die Hände zu Hilfe nimmt. Er öffnet und schließt sie, legt sie ganz flach an die Brust oder ballt sie zur Faust. Seine ausladenden Gesten erinnern an seine Begeisterung für das Theater. Theaterwissenschaft hätte er gerne studiert; „kaderpolitische Gründe“ vereitelten dies. Dennoch stand Krüger immer wieder auf der Bühne: Während der Lehre als Reifenwerker bei der Gesellschaft für Deutsch-sowjetische Freundschaft in Fürstenwalde, später spielte er Straßentheater in Budapest und noch als Vikar inszenierte er in der Galilea- Kirche in Friedrichshain Heiner Müllers „Wolokolamsker Chaussee“. Die Begeisterung für die Bühne stimmte ihn milde. Wenn „Überzeugungstäter“ des Oktoberclubs ihren Liedrefrain „Hoppsa rüber und nüber, jetzt gehen wir zum Kommunismus über“ sangen, wußte der Pubertierende zwar, daß sie einen „Knall“ hatten, aber es störte ihn nicht weiter.

Auch als Reifenwerker war Krüger kein „Glaubenskrieger“ und tat seinen Dienst für das Vaterland in der Nationalen Volksarmee (NVA). Als Bausoldat den Dienst mit der Waffe zu verweigern wäre nur ein halber Kompromiß gewesen, und Totalverweigerung hätte Gefängnis bedeutet. Außer der Erkenntnis, wer die wirkliche Macht hat, brachte ihm die NVA-Zeit Philosophen und Schriftsteller näher. Zusammen mit seinem jetzigen Pressesprecher Thorsten Schilling las er Kant und Dostojewski – „Der paßte zu der Schwermut dort“. Der damals glattrasierte Krüger verließ des öfteren unerlaubt die Kaserne, um ins Theater zu gehen und, man glaubt es kaum, er war ein richtig guter Sportler: Handgranatenweitwurf, Sturmbahn und 3.000-Meter- Lauf. Als er dann den Reservedienst verweigerte, kam ihm Manfred Stolpe zu Hilfe, an dessen „Seitenwechsel“ er nicht glaubt.

Gestählt vom Dienst für das Vaterland bestieg der 23jährige Theologiestudent den 5.632 Meter hohen Elbrus. Um dahin zu gelangen, verließ die „ehrliche Haut“, wie bei anderen Abenteuerreisen nach Rußland, die offizielle Transitstrecke. Doch der illegale Grenzgänger hatte wieder einen rettenden Engel: der Knastwärter nahm ihn mit zu sich nach Hause und bei einem Gläschen ließen sie die Völkerfreundschaft hochleben. Das Geld für die Abenteuerreisen mit kalkulierbaren Risiken verdiente er sich als Friedhofsgärtner im Ostberliner Ahrensfelde und als Versicherungsvertreter. Der Job bei den Toten verhalf ihm zu einer billigen Friedhofswohnung, und als Vertreter schwatzte er so manchem „Politbonzen“ Lebensversicherungen auf, von denen er anderen abriet. Besonders erfolgreich sei er nicht gewesen, gesteht Krüger.

Westreisen

In den Westen ließ die DDR den unverheirateten jungen Mann, der sich in der Bewegung „Kirche von unten“ engagierte, seltsamerweise fahren. Als 1986 die Reisebedingungen erleichtert wurden, besuchte er bis zum Mauerfall viermal seine Tante in Schleswig-Holstein. Ausgestattet mit Tantchens Westgeld brach der 27jährige Rasputin das in ihn gesetzte Vertrauen und reiste nach Amsterdam. Nicht ahnend, daß er fünf Jahre später in der neugebildeten Berliner Landesregierung das Amt des Jugendsenators übernehmen würde, rauchte er keinen Joint. Bis zum Mauerfall hatte er bereits Paris, Madrid und Italien gesehen. Kein Wunder, daß er, der seinen Rauschebart schon rüberstecken konnte, die Grenzöffnung nicht allzu begeistert aufnahm. Er hatte Angst um die Dynamik im Osten, erinnert er sich. Mit dem mittlerweile stark gestutzten Bart macht sich Krüger im Oktober als Bundestagsabgeordneter auf den Weg nach Bonn. Politik ist aber nicht unbedingt seine Berufung. Er könnte sich genauso vorstellen, ein Opernhaus zu übernehmen. Aber nur mit Weste.