Lila Deichfriede in den Niederlanden

■ Neue Regierung mit Sparprogramm in Den Haag

Groningen (taz) – Wim Kok hat es geschafft. Nach dreieinhalbmonatigen Koalitionsverhandlungen, den langwierigsten in der Geschichte des niederländischen Parlaments, wird der Parteiführer der Sozialdemokraten (PvdA) Premierminister in Den Haag und löst damit den Christdemokraten Ruud Lubbers (CDA) nach zwölfjähriger Amtszeit ab. Zu verdanken hat Kok den neuen Posten im wesentlichen seiner Fähigkeit zum Kompromiß: Im Juni beauftragte Königin Beatrix den von der Presse als „Buchhalter“ titulierten Sozialdemokraten, zwischen den festgefahrenen Positionen der Parteien zu vermitteln und eine mögliche Koalition auszuloten. Heute wird die Königin nun die neuen Minister der sogenannten „lila“ Regierung vereidigen – bestehend aus Mitgliedern der PvdA, deren traditionellen Erzfeinden der rechtsliberalen VVD sowie den linksliberalen Demokraten 66.

Die große Verliererin CDA, die bei den Wahlen vom 3. Mai einen erdrutschartigen Verlust von 20 Sitzen in der Zweiten Kammer erlitten hatte, geht in die Opposition. Damit werden die Niederlande zum ersten Mal seit 1918 ohne die Beteiligung einer konfessionellen Partei regiert. Der wegen des Wahlergebnisses ins Kreuzfeuer der Kritik geratene CDA-Fraktionsvorsitzende Elco Brinkman zog die Konsequenzen und trat zurück. Die NiederländerInnen dürfen sich angesichts des Verhandlungsergebnisses auf harte Jahre einstellen: Auf 69 Seiten bietet das Koalitionsabkommen im wesentlichen Zahlen. Kok hat seinem Ruf als Buchhalter alle Ehre und den liberalen Parteien, die dem Versorgungsstaat kritisch gegenüberstehen, reichlich Zugeständnisse gemacht: 18 Milliarden Gulden (etwa 16 Millionen Mark) sollen bis 1998 eingespart werden, davon sieben bei den Sozialausgaben.

Mehr Leistung gefordert

Als „neuen Gesellschaftsvertrag“ bezeichnete das niederländische Nachrichtenmagazin ElseVier das „lila“ Abkommen: Weniger Versorgungs- und mehr Leistungsstaat. Tatsächlich manifestiert es eine deutliche Abkehr vom bisherigen Gleichbehandlungsprinzip bei der sozialen Sicherheit. Unter dem Motto „Mehr Eigenverantwortlichkeit“ sollen die BürgerInnen zur Arbeit gerufen werden. Empfänger von Arbeitslosenunterstützung und Sozialhilfe sollen „aktiviert“ werden. Im Klartext heißt das: Staatliche Unterstützungen werden eingefroren und der Zugang erschwert. Darüber hinaus soll ein großer Teil der Unterstützungen ab 1996 zumindest teilweise vom vorigen Einkommen abhängig werden. Auch die Abhängigkeit vom Einkommen des Partners, für deren Abschaffung in hart gekämpft wurde, wird wieder eingeführt. Ferner werden Kranken- und Arbeitslosenversicherung privatisiert.

Das umstrittenste Element der neuen Politik ist jedoch die Umstrukturierung des Universitätssystems. Eineinhalb Milliarden Gulden sollen alleine dort eingespart werden. Mit der Umstellung von (elternunabhängigen) Stipendien auf (teilweise elternabhängige) Kredite zur Studienfinanzierung ist es da nicht getan: deshalb soll auch in den Niederlanden künftig das britische Studiensystem eingeführt werden, das den Grad eines bachelors bereits nach dreijährigem Studium vorsieht. Nur noch etwa 40 Prozent sollen anschließend zum master weiterstudieren.

Mit den Zugeständnissen in den Koalitionsverhandlungen ist Wim Kok in zahlreichen Punkten über sein eigenes Wahlprogramm hinausgegangen. Der „lila Deichfriede“ (ElseVier) wird bisher von der Bevölkerung mehr gefürchtet als begrüßt. Auch in seiner eigenen Partei wird der neue Premier wegen seiner Kompromißbereitschaft heftig kritisiert. Der Verfasser des PvdA-Wahlprogramms, Jos de Beus, bringt die Sorge vor „lila“ auf den Punkt: „Wir laufen ein gewaltiges Risiko, das Land zu depolitisieren und den Kräften des freien Marktes in die Hände fallen zu lassen, in Zusammenarbeit mit der Technokratie und ein paar Beamten und ihren Dossiers.“ Jeannette Goddar