Siemens' „top“-Management

Mit einer neuen Unternehmensphilosophie namens „top“ und vielen englischen Wörtern versucht Siemens den Sprung nach vorn  ■ Aus München Thomas Pampuch

Wer in langweiligen Sommerwochen sein Englisch aufbessern und gleichzeitig noch etwas über die internationale Wirtschaft erfahren will, beschäftige sich mit den neuen Management-Trends. Rechtzeitig zum Sommerloch haut die Süddeutsche Zeitung ihrer Kundschaft serienmäßig Neues aus der schönen neuen Welt des globalen Business um die Ohren. Lean Management beziehungsweise Lean Production is the name of the game.

Gemeint sind damit Schlankheitskuren in den Großunternehmen und Chefetagen. Kein Nadelstreifenträger, der nicht so erlesene Wörter wie Business Reengineering, Benchmarks, Radical Redesign oder auf gut japanisch Kaizen im Munde führt. Gefeiert, beschworen und analysiert wird der „Abschied vom Taylorismus“, die „fraktale Fabrik“, „jeder Mitarbeiter ein Unternehmer im Unternehmen“. Und alle Insider versichern, das Ganze sei keineswegs eine Modeerscheinung, sondern eine „Überlebensübung“.

Klar, daß ein Unternehmen mit weltweit 392.000 Mitarbeitern und einem Umsatz von über 80 Milliarden Mark auch einen eigenen exklusiven Begriff für die „Bewegung“ geprägt hat. Schlicht und einfach „top“ heißt die Sache bei Siemens, und in einer Flut von Broschüren, Presseerklärungen und Zeitschriftenartikeln wird Kunden, Managern und Mitarbeitern „top Siemens“ nahegebracht. Wer brav gelernt hat, daß „top“ für „time optimized processes“ steht, dem erzählt Zentralvorstand Walter Kunert in der Hauszeitschrift Siemens Welt, daß es auch „training of people“ oder „turn on power“ heißen kann. Und – da schau her – „an der Spitze stehen, super sein“.

Zu Prag im Juli 1994 erläuterte Siemens-Vorstand Heinrich von Pierer die strukturellen Maßnahmen der „top“-Bewegung. Bei dem „Dreiklang“ strategischer Prioritäten – Produktivität, Innovation und neue Märkte – begnüge man sich nicht damit, Ziele vorzugeben und einen Maßnahmenkatalog zu entwerfen. „Unsere Mitarbeiter müssen hinter diesen Maßnahmen stehen und sie entsprechend umsetzen.“ Die Liste der „top“-Projekte werde von Monat zu Monat länger. In den verschiedenen Bereichen gebe es insgesamt bereits über 250 dieser Projekte, was dazu geführt habe, daß das „Kosteneinsparungspotential auf rund sechs Milliarden DM definiert und verbindlich festgelegt“ worden sei. Aber: „Wir wollen uns nicht zu Tode sparen.“ Fast zehn Prozent des Umsatzes würden weiterhin in Forschung und Entwicklung investiert – derzeit rund acht Milliarden Mark.

„lean“ ist out, „top“ ist in

Einige Etagen tiefer – wenn man das angesichts der neuen, auf „flache Hierarchien“ angelegten Bewegung überhaupt noch so sagen darf – sind fleißige Unternehmenskommunikationskräfte seit etwa einem Jahr an der Arbeit. Mit Informationsbroschüren, Trainingsprogrammen und Round-table- Gesprächen wird „top“ den eigenen Leuten wie den Kunden nahegebracht. „Kundenorientierung“ (Total Customer Orientation) steht steht nämlich neben „Prozeßorientierung“ ganz vorne bei der Optimierung. Und das heißt auch: ein eigenes Profil zeigen. „Wir bei Siemens gehen einen eigenen Weg“, heißt es forsch in dem vieltausendfach verteilten Folder des Produktivitätszentrums der Siemes AG. „Deshalb haben wir auch einen eigenen Namen dafür.“ Eine Bezeichnung wie „lean“ werde „wie jeder Modebegriff bald abgegriffen sein und verschwinden. Die top-Bewegung dagegen wird weiterleben.“

Dem Außenstehenden, aber auch manchem Betriebsangehörigen mag vieles an der Bewegung wie saisonbedingte heiße Luft erscheinen. „Es geht darum, unsere Wirtschaftskraft zum Nutzen unserer Kunden, Mitarbeiter und Betriebe zu stärken“, heißt es etwa zum Ziel von „top“. Worum haben sich die Siemens-Manager eigentlich bisher gekümmert? Etwas neuartiger klingt es dann schon, wenn als „langfristiges Ziel ... der Aufbau einer ständig lernenden Organisation mit kurzen Aktions- und Reaktionszeiten“ genannt wird. „Das erfordert eine Änderung in der persönlichen Einstellung und im Rollenverständnis aller Beschäftigten. Permanente Verbesserungen müssen zur Gewohnheit werden.“ Primär ziele die „top“-Bewegung „nicht auf Kostensenkung, sondern auf Leistungssteigerung“.

Helfen soll dabei der „Kontinuierliche Verbesserungsprozeß (KVP)“. Stolz weist man bei Siemens auf die passende Managementphilosophie (und das entsprechende Wortungetüm) hin, die man bereits seit Jahren im Programm hat: das „Verbesserungsvorschlagswesen (VV). Damit das VV aber „top und damit zum KVP wird“, müsse die Spanne zwischen Idee und Einführung kürzer werden. Erst das motiviere die Mitarbeiter – denn im Mittelpunkt stehe bei „top“ wie bei KVP (wie beim japanischen Kaizen, aus dem es abgeleitet ist) nun mal der Mensch. Gerade auf die „Klein-VV“, das heißt die einfachen Vorschläge zur Verbesserung jedes individuellen Arbeitsplatzes, müsse schnell und unbürokratisch reagiert werden. Mit Blick auf Japan gelte im übrigen: kapieren, nicht kopieren.

Teamarbeit und kurze Wege

Entscheidend sei, durch Kommunikation und Erfolgserlebnisse das „Wir-Gefühl“ bei den Mitarbeitern zu stärken. Der berechtigten Angst vieler, daß es sich bei „top“ einfach um einen Euphemismus für den Abbau von Arbeitsplätzen handele, wird mit Nachdruck widersprochen. „top“ versuche, durch Innovationen eine Basis für zusätzliches Wachstum zu schaffen und neue Märkte zu erschließen. Am Standort Bocholt etwa sei es gelungen, durch Redesign der Produkte, Anpassung der Ressourcen und Verkürzung der Abläufe die Kosten der Telefonapparatefertigung zu halbieren und damit den Standort zu halten.

Im Siemens-Relaiswerk in Berlin-Mariendorf (500 Mitarbeiter) habe man es durch Teamarbeit und kürzere Wege geschafft, die Entwicklung neuer Relais von 60 auf 22 Monate zu verkürzen. Dort sind die Entwicklungsingenieure kurzerhand in die Werkhallen umgezogen und arbeiten dort nun direkt mit den Meistern und Facharbeitern zusammen. Der große Managerüberbau wurde aufgegeben. Kleingruppen von etwa zehn Leuten – Physiker, Ingenieure, Kaufleute und Arbeiter sitzen jeden Tag beisammen und koordinieren in direktem Kontakt mit den jeweiligen Kunden Entwicklung, Fertigung, Logistik und Kalkulation. „top“ in Mariendorf habe im letzten Jahr immerhin zu einer Produktivitätssteigerung von zehn Prozent geführt.

Eine Arbeitsplatzgarantie bedeutet „top“ freilich nicht. Allein im letzten Quartal hat sich die Siemens-Belegschaft um 6.000 (davon 4.000 in Deutschland) verringert. Und für das Geschäftsjahr 93/94 rechnet man mit dem Abbau von 20.000 Arbeitsplätzen weltweit. Da wird einiges Wir-Gefühl über Bord gehen. Dennoch scheint sich der Gesamtbetriebsrat „top“ nicht versperren zu wollen.

Die Unternehmenskommunikatoren berichten davon, daß viele Beschäftigte durch die Chancen auf höhere Mitverantwortung regelrecht „heiß gemacht“ werden könnten. Es wird auch schon über neue Entgelt- und Prämiensysteme nachgedacht, damit die Ideen und der Einsatz der Beschäftigten gerecht belohnt werden können. Die Abschaffung alter Hierarchien, die Arbeit in selbstverantwortlichen, flexiblen Gruppen und ein neuer, demokratischerer Führungsstil soll Siemens zum Wohle aller voranbringen. Es ist, als habe die Studentenbewegung nach 25 Jahren die Vorstandsetagen erreicht.

Ums Englischlernen wird dabei allerdings vom Topmanager bis zum Lehrling keiner herumkommen: Allein in der kleinen Broschüre wimmelt es von Time- Based-Management (TBM), Total Cycle Time (TCT) und Total Quality Management (TQM). Gefragt sind coaches und top-driver, die den „funktionsübergreifenden teams“ all die neuen Techniken vermitteln sollen. Wer oder was dann completely knocked down (CKV = völlig zerlegt) ist – die Fertigung oder die neuen „top“-Siemens-Mitarbeiter –, wird sich weisen.