Hundert hopsende Frauenbeine

Takarazuka, Tokios kitschige „Mädchenoper“, vermittelt Teenagern die letzte Hoffnung auf ein Leben ohne Männer – und das mit den merkwürdigsten Methoden  ■ Von Chikako Yamamoto und Georg Blume

„Mein Begleiter bedankte sich für ,einen unvergeßlichen Abend‘, während ich versuchte, den Abend so schnell wie möglich wieder zu vergessen“, notierte der Theaterkritiker der Financial Times Anfang Juli bei der Premiere von Takarazuka in London. In Japan heißt es, wer Takarazuka, die glitzernde Frauenrevue aus dem gleichnamigen Städtchen bei Osaka, einmal sieht, bleibt sein Leben lang Fan – oder geht nie wieder hin. Nun haben japanische Musiktheater, von Kabuki bis Angura, im Westen stets großes Aufsehen erregt. Takarazuka aber, die von Männerhand inszenierte „Mädchenoper“, wird daran mit aller Wahrscheinlichkeit nicht anschließen können. Nicht umsonst war es den Konzertveranstaltern bislang irgendwie gelungen, den amerikanisierten Teil des japanischen Showlebens fürs internationale Geschäft auszuklammern. Ästhetik, vollendetes Design, eine bis ins letzte Detail ausgearbeitete Darbietung ist man aus Japan gewöhnt – während Takarazuka nur zeigt, was dabei herauskommt, wenn Japaner Kitsch vergöttern.

Auf dem postmodernen Tokioter Kulturmarkt mag sich das gut einpassen und mangels Konkurrenz sogar zur nationalen Stilblüte hochgelobt werden. Doch leider sind auch eine 80jährige Theatergeschichte und hundert hopsende japanische Frauenbeine noch keine Gewähr für Unterhaltung geschweige denn für Exotik.

Das kunterbunte Durcheinander vieler kleiner Frauen auf großer Bühne soll Oper, Ballett und Musical im alles integrierenden Schnellgang sein. Elf Drehbühnen sind in Bewegung, tausend Flutlichter strahlen, wenn die Takarazuka-Frauen von der Oper „Romeo und Julia“ bis zum letzten Hit von Michael Jackson alles singen, was laut ist, und dazu tanzen, wie es ihnen gefällt. Dabei mangelt es nicht nur an Sex-Appeal, sondern auch an künstlerischer Fertigkeit. Nur zwei Jahre währt die Grundausbildung der 15- bis 18jährigen Mädchen an der theatereigenen Schule, bevor sie auf die Bühne kommen.

Zudem praktizieren die allesamt männlichen Takarazuka-Autoren, was die wenigsten hier noch nötig haben: das Kopieren vom Westen, und zwar ganz auf die Art, wie der Gründer und Showmaster Ichizo Kobayashi vor 40 Jahren seinen ersten Weihnachtstext komponierte: „Jinguru berru, jinguru berru, junguru aru wei...“ Takarazuka erinnert an Schülerballett mit Travestie-Elementen, eine Einladung für Voyeure.

Trotzdem ist Takarazuka eine japanische Institution, und grundsätzlich stehen nur Frauen auf der Bühne. Der Kult um die weiblichen Bühnenstars mit dem männlichen Pathos macht aus Takarazuka tatsächlich mehr als nur eine Theaterrevue. So wie die von Männern dargestellten Frauen im Kabuki angeblich femininer als Frauen sind, sollen die Takarazuka-Frauen männlicher als Männer erscheinen. Vor dem Hintergrund einer auf weitgehender Geschlechtertrennung beruhenden Tradition stimuliert Takarazuka noch heute die Selbstgenügsamkeit des weiblichen Geschlechts – besonders an den nach wie vor zahlreichen Mädchenschulen in Japan. Fast neunzig Prozent aller Takarazuka-Besucher sind Frauen, die meisten davon unter 20.

Kitschrevue – über alle Kritik erhaben

Diesen jüngsten Fans läßt sich die Begeisterung nicht absprechen. „Wenn Männer Männer spielen, tun sie nur so toll“, befindet eine brav gekleidete Studentin in der Theater-Lobby in Tokio. „Die Frauen von Takarazuka zeigen dagegen die echte, gute Seite der Männer.“ Im Grunde vermittelt Takarazuka den vom Geschlechterkrieg verschreckten Mädchen die letzte Hoffnung auf eine Welt ohne Männer. Und wenn zwei 18jährige Takarazuka-Fans meinen: „Hier wird Männlichkeit herausgestellt“, ahnen sie wohl bereits, daß im echten Leben von der gewöhnlichen Männlichkeit nicht viel zu erwarten ist. Allzugern und allzuoft lassen sich japanische Jungs von ihren Freundinnen wie von der Mutter behandeln. Zumindest solche Typen kommen bei Takarazuka nicht vor.

Takarazuka trennt Welten und Geister. Zwar wurde die „erste Mädchenoper der Welt“ schon 1914 als „musikalische Brücke zwischen Ost und West“ ersonnen, doch noch bei jeder Auslandstournee erntete die junge Frauentruppe bislang Schimpf und Schande. Zu Hause aber steht das traditionsreiche Ensemble längst über aller Kritik. Sogar der Applaus des gehobenen Publikums ist der Kitschrevue gewiß, die in Tokio an 150 Tagen im Jahr vor vollem Haus aufgeführt wird.

Vielleicht hat die große Akzeptanz der Vorstellungen damit zu tun, daß das alte Takarazuka- Theater in Tokio zwischen Kaiserpalast und Mitsubishi-Zentrale einen Platz direkt am Puls der Mächtigen hat. Keine zweite Kulturstätte der Stadt (der Welt?) befindet sich auf teurerem Boden. Nach der Vorstellung brauchen die Theatergäste nur die Straßenseite zu wechseln, um sich in den exklusiven Restaurants und Bars des „Imperial Hotels“ zu vergnügen. Hier ist sich Tokio selbst genug, wie lächerlich die Gesellschaftsshow auch immer sein mag.

In solcher Selbstverblendung faßten Mitsubishi und einige andere Firmen offenbar den Beschluß, Takarazuka in diesem Sommer nach London zu bringen. Schon 1959 urteilte das Time-Magazine über den Auftritt in New York: „Die musikalische Brücke von Takarazuka erschien wie eine Einbahnstraße, die 20 Jahre vor ihrem Ziel endete.“ Gemeint war schon damals, daß die Takarazuka- Truppe unfähig erscheint, Erneuerungen zu durchlaufen. Egal ob Imitation von Oper oder Musical, ob das Script auf einem alten Bestseller („Vom Winde verweht“) oder einem neuen Comic-Strip („Black Jack“) beruht: Takarazuka gleicht noch immer dem Broadway-Potpourri der zwanziger Jahre. Glitzer und Glamour, Raketen und Rauch, Kostüme und Puppen – Takarazuka produziert einen Farbenrausch ohne Ende, aber auch ohne ein eigenes kreatives Konzept. Aber das wird wohl gar nicht erst gesucht.

Gute Chancen für Heiratsvermittlung

Tatsächlich liegt dem Bühnenspektakel eine sehr ungewöhnliche Produktionsweise zugrunde: Keine Schauspielerin wird nur nach Aussehen und künstlerischem Können ausgesucht. Ebensowichtig ist ihr Alter und die Zahl der mit Takarazuka verbrachten Jahre – Senioritätsprinzip nennt man das, für junge Talente nicht immer förderlich. Außerdem muß jede Tänzerin in ihrer Schulzeit allmorgendlich zwei Stunden Fußböden schrubben – sehr förderlich für den Mythos Takarazuka . Denn so sollen die jungen Frauen sein: „Rein, ehrlich und schön“, wie Gründer Kobayashi im Jahr 1914 verfügte. Und natürlich werden die tonangebenden Takarazuka-Männer nicht müde, zu wiederholen, daß sich daran bis heute nichts geändert habe. „Bei uns geht es zu wie in einer Frauenarmee und nicht wie in einem Mädchenparadies, wie manche Leute sagen“, gestand die Starschauspielerin Keaki Mori. Schon deshalb will auch die japanische Lesbengemeinde von Takarazuka nichts wissen.

Niemand wagt indessen einzugestehen, daß die japanische Produktionsweise, gut für Autos, Radios und Roboter, in Takarazuka gänzlich versagt. Offenbar verdienen die hiesigen Theaterkritiker nicht den Lohn von Ingenieuren: denn letztere müssen jede lockere Schraube vor der Abgabe bemerken, während die anderen jeden Fehltritt auf der Bühne großzügig übersehen. Tatsächlich ist Takarazuka wohl nur der Unterhaltungszweig des Eisenbahn- und Kaufhauskonzerns Hankyu, einem angesehenen Unternehmen des Landes, und gehört gerade deshalb fest zum Mainstream.

So erscheint es vielen Familien noch heute schicklich, ihre Töchter statt mit einem Mann vorerst mit Takarazuka zu vermählen. Allen Schauspielerinnen der Truppe ist das Heiraten nämlich strengstens untersagt. Wer heiratet, muß austreten. Abendlicher Ausgang nach 19 Uhr ist im Theaterkloster undenkbar. Selbst Väter und Brüder dürfen die Bühnennonnen nur in der Lobby sehen. Ein solches Reglement ein ganzes Jugendalter durchzuhalten, traut sich natürlich auch die beste japanische Familie nicht mehr zu. Weshalb die Eltern ihre Töchter nur allzugerne hergeben, während diese vom Eintritt ins Showparadies träumen. Nicht zuletzt gilt die Absolvierung der Takarazuka-Schule als gute Voraussetzung für ein „Omiei“ – die traditionelle Heiratsvermittlung. Unter den 1.800 Bewerberinnen wurden im vergangenen Jahr freilich nur vierzig zugelassen – der Rest der verzückten Teenager bleibt Fangemeinde.

Was Takarazuka bleibt, ist schließlich nur jener Rest Spiegelbildlichkeit mit Kabuki, Japans mittelalterlichem Volkstheater. Denn Kabuki wird heute ausschließlich von Männern aufgeführt, obwohl es anfangs ein reines Frauentheater war. Allerdings stiegen damals mit der Beliebtheit der Stücke auch die Gagen der Schauspieler – weshalb die Männer die Frauen schnell verdrängten. Bei Takarazuka indessen blieben die Löhne niedrig, und die Frauen spielen weiter – als Gefangene einer Show, in der sie alles und nichts bestimmen, so wie die Hausfrau am Herd. „Unsere Frauen benutzen keine elektronischen Staubsauger. Sie wischen alles mit der Hand“, versichert Takarazuka-Manager Yoshiki Terai – voller Stolz auf seine zeitlose Ausbeutungskunst.