: Fahr'n, fahr'n, fahr'n auf der Infobahn
Viel Grunge um „Multimedia“ und „Interaktive Medien“ auf der Entertainment-Messe PopKomm. Doch verglichen mit dem, was heutige CD-Is können, ist der ganz normale Alltag immer noch ein Thriller an Interaktivität ■ Von Thomas Groß
Gorny, the one and only, gab diesmal nur noch ein Gastspiel. Von kindgleichen Moderatorenmenschen beiderlei Geschlechts umtanzt, stellte der Erfinder der „Messe für Popmusik in Deutschland“ sein neues Projekt vor, den Ende letzten Jahres gestarteten Musiksender Viva – und hinterließ ganz nebenbei die überraschende Erkenntnis, daß was fehlt ohne ihn.
PopKomm ohne Dieter Gorny, das ist ein wenig wie Musikfestival Schleswig-Holstein ohne Justus Frantz: Man vermißt Farbgebungen im engeren Performancebereich, die rauschgoldengelgleiche Personality-Note oder – das gilt für Journalisten – auch nur den Sparringspartner, der einem mit begnadet visionärem Gefasel von „Benutzeroberflächen“ und „kreativen Schnittstellen“ den Stoff für Artikelanfänge liefert.
PopKomm 94: noch einen Tick nüchterner, illusionsloser, geschäftsmäßiger, weiter in die Funktionale gerutscht. Ganz ohne das beruhigende Körperbild eines Anchorman im Hinterkopf, bewegt man sich durch die unübersichtliche Benutzeroberfläche der im 6. Jahr veranstalteten Messe-Show, verharrt mal am Stand für CD-Lagerungssysteme, schaut bei Rock 'n' Rollers rein, wo alles sich eisern an der Bierflasche festhält, sieht einem der wie spontan veranstalteten Showcases zu oder trinkt einen Espresso bei der Gema.
10.000 sollen es diesmal gewesen sein, die am vergangenen Wochenende zusammenkamen, um zu „kommunizieren“, und nach dem Ableben der Berliner BID (siehe taz vom 19.8.) sowie dem definitiven Überrunden der MIDEM in Cannes tat man das zu Köln mit einer derartigen Verve, daß die vielen Gespräche, Plaudereien, Selbstdarstellungen und musikalischen Kleindemonstrationen sich in der vollklimatisierten Betonakustik des Congress Centrums Ost zu einem einzigen Nullgeräusch summierten – einer Art Sägezahnkurve, die die Neigung hatte, noch beim nächsten Frühstück flashback-mäßig zurückzukehren.
Mit Elder Showman Gorny ist auch die Tradition verschwunden, die Messe generös unter ein übergreifendes Motto zu stellen – und doch machte schon der erste Blick auf die Themen des zugehörigen PopKomm-Kongresses klar, worum es beim großen Grunge des Busineß geht: Die Begriffe „Multimedia“ und „Interaktivität“ tauchten in jeder zweiten Veranstaltung auf und das nicht nur, weil sie hochauflösende Brausewörter der Innovation sind.
Die Sache ist ernster: Ein Großteil der Anbieter, die wie immer in phantasievoll ausgestalteten Gevierten socialising betrieben, müßte – vom Medienkonzern bis hin zum kleinen Distributer oder Merchandiser – in dieser Form verschwinden, sich jedenfalls radikal umstrukturieren, würde ... ja, würde eine Entwicklung durchschlagen, „die mal panisch, mal im gründerzeitlichen Ton der angenommenen Herausforderung beschworen wurde: die Durchsetzung des immateriellen Tonträgers. Popmusik wäre dann nicht länger Popmusik, wie wir sie kennen, sondern eine von vielen Facetten im einem globalen Entertainmentmarkt, der im Wohnzimmer stattfindet – weshalb sich die diesjährigen PopKomm-Macher Großmaas und Plaschke auch clever den Zusatz „Messe für Entertainment“ ins Warenzeichen eintragen ließen.
Der Traum vom Multimedia-Endgerät
Neu ist das alles nicht: Bereits in den vergangenen Jahren wurde wortreich an der Vorstellung eines heimischen Allround-Terminals herumentworfen, der so grobschlächtige Dinge wie Scheiben, Hüllen und Heftchen (nebst deren zeitraubendem Vertrieb, Kauf und Verkauf) überflüssig macht, weil alle Informationen – bis hin zum bunten Cover – zentral von der Datenbank abrufbar sind; doch inzwischen ist der „Information Highway“, die Idee eines Glasfasernetzes, das alle Haushalte on line schaltbar macht, unter Bill Clinton offizieller Regierungsplan der USA (bis zum Jahr 2017, heißt es allenthalben, soll er verwirklicht sein), und auch in Europa wird die Entwicklung nicht mehr nur in Branchen- und Spezialistenzirkeln verhandelt, sie hat sich ins Feuilletonistische verlagert.
Wenn Popularisierungen Anzeiger bevorstehender Durchsetzungen sind, so wird zumindest schon heftig geträumt von der Sega-Konsole der Zukunft, einem Multimedia-Endgerät, das alles auf einmal ist: Computer, Fernseher, Telefon, Fax, Staubsauger, Rührgerät und Hifi-Anlage. Bald wird selbst die Bäckerblume ihre Leser mit der poetischen Vorstellung ganz aus Sand (Silicium), Glas (Breitbandnetzen) und Luft (der „Fibersphere“ der drahtlosen Datenübertragung) gewobener Kommunikationen unterhalten.
Wie viele Jahrzehnte es in Echtzeit dauern wird, bis derartige Geräte für 299,99 Mark an der Supermarktkasse ausliegen (erst dann wird es ja so richtig interessant), weiß natürlich niemand. Bislang existiert allenfalls eine frühneuzeitliche Vorstufe, die CD-ROM oder auch CD-I(nteractive), die in diesem Jahr mit nicht unbeträchtlichem Pomp in breiterem Rahmen vorgestellt wurde.
Dem Chefredakteur der Fachzeitschrift Screen Multimedia, einem schaustellerhaften Mann mit buntem Sternenhemd, fiel es zu, für Uneingeweihte die Funktionen anhand eines klassischen Overhead-Projektors (!) zu demonstrieren: die Möglichkeit des Users, „interaktiv“ auf das Programm Einfluß zu nehmen, das Herumspazieren auf dessen diversen Ebenen, bei den fortgeschritteneren Versionen das Verschwinden der Menüleiste zugunsten sensibler Punkte auf dem Bildschirm, die nur noch mit der Maus angeklickt werden – „Computer sollen nicht länger nach Computer aussehen, sondern nach Wirklichkeit“.
Besonders weit ins Virtuelle hineinzugelangen ist damit allerdings nicht. Selbst die fortgeschrittensten dieser Programme, mit den poppigen Logos „Prince“, „Peter Gabriel“ oder „David Bowie“ verbunden, sind bisher nichts als bessere Adventskalender: man kann ein bißchen blättern, ein bißchen Türenaufmachen, man kann rein- und rausscrollen aus dem Bild, und ab und zu mal gibt es eine kleine fiepende (oder auch sprechende – so auf die Geisterbahnart) Überraschung – mehr nicht. Selbst der langweiligste Durchschnittsalltag ist ein Thriller an Interaktivität dagegen, von dem Messe-Nachtleben mit seinen vielfältigen Entscheidungsmöglichkeiten ganz abgesehen: In welchen überfüllten Kölner Club begebe ich mich heute abend zu welcher Band? Gehe ich vorher über Los zum Bankautomaten und ziehe 100 Mark ein? Spreche ich die Frau neben mir an? Will dieses Kölsch hier in der Hand wirklich noch getrunken werden? Das kann bislang kein Computer.
Kontrollverlust bei freiem Datenfluß
Doch so bescheiden die Anwendungen der CD-I bislang auch sein mögen, auch in diesem Jahr fehlte es nicht an Spekulationen zu einer „posttraditionellen Kunst“, die „interaktiv“ aus der Vernetzung hervorgehen soll. „Die Info-Bahn erfüllt nicht nur den beabsichtigten kommerziellen Zweck des Home- Shopping und der Filme-auf-Abruf“, heißt es im Messe-Katalog, „sondern kann auch On-line-Netzwerke, Verteilungs- beziehungsweise Veröffentlichungssysteme für spezielle Interessengruppen sowie kollektive Kunstwerke in Real-Time bereitstellen. Es könnte sich tatsächlich um das Medium handeln, von dem wir immer geträumt, welches wir jedoch nie für möglich gehalten haben. Ein Medium, in welchem die Konzeption, Produktion und gemeinsame Nutzung von Kunstwerken innerhalb des Verteilungsmediums stattfindet.“
Auch dieser etwas pfarrerhafte Gedanke ist alles andere als neu. Als Zukunftsdesign vor dem Background des interaktiven Supermediums kehren die Überlegungen zur Demokratisierung von Medienanwendungen wieder, wie sie von Benjamin und Brecht bis hin zu Enzensberger am Beispiel von Film, Fernsehen und Radio entworfen wurden: Das Medium ist umkehrbar, der User wird tendenziell auch Produzent. Klarer als je zuvor sind diese Strategien allerdings bloß noch als Hacker-Szenario denkbar: Wenn all diese Technologien, wie längst nicht mehr zu verheimlichen, im Rahmen von Spionage und Spionageabwehr entstanden sind, werden die Entwickler und Verwalter der Interaktivität sie kaum freiwillig „speziellen Interessengruppen“ zur Verfügung stellen. Offene Kanäle sind immer nur in Frühstadien erlaubt.
Erstaunlich an einer Messe wie der PopKomm ist immerhin, mit welcher Selbstverständlichkeit gerade in diesem Punkt Klartext geredet wird. „Es geht in Wirklichkeit um die Frage: Wem gehören die Netzwerke?“ schreibt Robert Adrian im Katalog, und ein Text der IFPI (International Federation Of Publishing Industries) fordert unmißverständlich und auf schnellstem Wege ein Abkommen hinsichtlich aller technischen Standards, „die für den Kampf gegen Raubdrucke und die Verwaltung von Tonträgerrechten wichtig sind (z.B. SID Code, ISRC, SCMS, Schutz gegen die Deaktivierung von Codiersystemen, die bei Übertragungen durch Audioprogramme verwendet werden).“
Die Vordenker der phonographischen Industrie haben weniger Angst vor dem Wegfallen ganzer Industriezweige zugunsten reiner Dienstleistung als vor dem Kontrollverlust, den die zunehmende Immaterialität der Ware begünstigt. Und tatsächlich fällt es ja schwer, sich in einer Welt reiner Datenflüsse ein dauerhaft gesichertes Privateigentum vorzustellen: den abgesteckten Claim im großen Strom.
Allzusehr gejuckt hat dieser Zukunftshorror die vielen medialen Kleindealer in ihren Parzellen allerdings (noch) nicht. Immer noch war die PopKomm von oben, von der Rolltreppe aus, anzusehen wie ein großer, tollgewordener Basar. Auf den Ringen der Innenstadt demonstrierte das Kölner Narrenvolk seine lange interaktive Übung im Karnevalfeiern, und abends klickte alles die Menüleisten des Lebens an, was sie hergaben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen