Ein unvergleichlicher Schmerz des Volkes

■ Spekulationen über Machtkampf in Nordkorea / Umstrittene Atomreaktoren sollen nicht kontrolliert werden

Berlin (taz) – „Im Denken und Willen fest zusammengeschweißt, schreiten heute alle Parteimitglieder und anderen Werktätigen ebenso wie die Armeeangehörigen Koreas auf dem von ihm gewiesenen Weg voller Kraft voran und singen aus tiefster Überzeugung die Lieder: ,Wo Sie gehen, gehen auch wir‘ und ,Nur mit Ihnen können wir siegen‘“, schließt eine von Nordkoreas Funktionären verteilte Erklärung, die mit der Spekulation über einen Machtkampf in Pjöngjang aufräumen soll.

Doch wo geht Kim Jong Il, der Sohn des vor sechs Wochen verstorbenen nordkoreanischen Staats- und Parteichefs Kim Il Sung? Immer noch steht seine Bestätigung als Staatspräsident und Generalsekretär der kommunistischen Partei aus. Da aus dem Inneren der nordkoreanischen Politik nichts an die Außenwelt dringt, blühen die Gerüchte: Der 52jährige, der zuletzt am 20. Juli bei der Trauerfeier für seinen Vater in der Öffentlichkeit aufgetaucht ist, leide an Leberzirrhose oder Epilepsie oder unter den Intrigen böser Rivalen. Innerhalb des nordkoreanischen Militärs, dessen Oberbefehlshaber Kim Jong Il seit Ende 1991 ist, rumore es.

Die Quellen bleiben obskur, meistens heißt es dann „informierten Kreisen zufolge“ oder „nach Informationen des südkoreanischen Geheimdienstes“. So meldete die amtliche südkoreanische Pressedienst Yonhap gestern, im Diplomatenviertel der nordkoreanischen Hauptstadt Pjöngjang seien unbestätigten Berichten zufolge Flugblätter aufgetaucht, auf denen „Nieder mit Kim Jong Il“ gestanden habe. Und ein japanischer Pressedienst berichtete am Montag, Nordkoreas Rundfunk habe für den Fall, daß Kim Jong Il nicht bald auch offiziell die Nachfolge seines Vaters als Staats- und Parteichef übernimmt, vor einem Erstarken „ehrgeiziger Personen und Verschwörer“ gewarnt.

Weil er die in ausländischen Medien geäußerten „Vermutungen“ und „Ahnungen“ darüber, daß es in Nordkorea nach dem Tode des alten Kim „in bezug auf die Führungsfrage einige Änderungen gibt“, zurechtrücken wollte, lud der Leiter des „Büros für den Schutz der Interessen der Koreanischen Demokratischen Volksrepublik“, Kang Jong Mo, gestern die Presse in Berlin zu einem Gespräch.

Gar kein Zweifel sei zulässig: Kim Jong Il sei der „oberste Führer“ des koreanischen Volkes und der „einzige Nachfolger“ des Präsidenten. „Es gab früher kein Problem“, sagte Kang, dessen Revers ein dezenter Anstecker mit dem Portrait Kim Jong Ils vor roter Fahne schmückte, „und auch in Zukunft wird es keines geben.“ Warum Kim Jong Il dessen Ämter nicht auch formal angetreten hat? „Auch nach dem Ende der offiziellen staatlichen Trauerzeit beherrscht die Trauer immer noch das ganze koreanische Volk“, erklärte Kang. Angesichts dieses Schmerzes, der alles, was andere Völker erfahren haben, weit und unvergleichbar überträfe, beharrte der Vertreter Nordkoreas, ließe sich die Nachfolgefrage nicht anders beantworten: „Es kommt aber die Zeit, daß wir das mal veröffentlichen.“

Während die Weltöffentlichkeit also jegliche Neigung zur Spekulation über Wohl und Wehe des offiziell immer noch geliebten Führers unterdrücken sollte, darf sie sich mit den USA darüber freuen, daß Nordkorea weiteren Verhandlungen über das Pjöngjanger Atomprogramm am 23. September in Genf entgegensieht. Dann soll nach den Worten Kangs darüber verhandelt werden, wie das am 12. August zwischen den USA und Nordkorea ausgehandelte Übereinkommen umgesetzt werden kann.

Darin hatte sich Pjöngjang bereit erklärt, die 8.000 aus dem umstrittenen Atomreaktor Yongbyon entnommenen Brennstäbe nicht wiederaufzuarbeiten. Bedingung: Die USA sichern zu, Leichtwasserreaktoren als Ersatz für die alten graphitmoderierten Reaktoren zu liefern. Desweiteren wurde vereinbart, eine Normalisierung der Beziehungen zwischen beiden Staaten und die Schaffung einer atomwaffenfreien koreanischen Halbinsel anzustreben. Wenn diese Bedingungen erfüllt werden, will Nordkorea nach den Worten Kangs wieder in den Atomwaffensperrvertrag eintreten. Doch der Weg dahin scheint noch weit: Eine internationale Kontrolle der zwei umstrittenen Atomanlagen in Yongbyon lehnte der Vertreter Pjöngjangs weiterhin kategorisch ab. Jutta Lietsch