Geheimdienst und Carlos - Dichtung und Wahrheit

■ Kaum haben die Ermittlungen gegen den Topterroristen begonnen, findet sich Frankreich in einer Debatte über die illegalen Praktiken im Auftrag des Staates

Ein schöner Erfolg: In wenigen Tagen ist aus der „Affäre Carlos“ die „Affäre Vergès“ geworden. Der Staranwalt des inhaftierten Starterroristen hat die Situation völlig auf den Kopf gestellt: Nicht sein Klient macht Schlagzeilen, sondern er selbst. „Er ist glücklich und amüsiert sich wie verrückt“, sagt ein enger Freund.

Oder doch nicht? Der mysteriöse Anwalt algerischer Guerilleros wie deutscher Nazis und französischer Kollaborateure war über die „Enthüllungen“ in einem Stasi- Bericht, die ihn als „operatives Mitglied“ der Carlos-Gruppe auswiesen, gar nicht glücklich. Jacques Vergès wollte sich keinesfalls die Schau stehlen lassen, die er aus der Verhaftung seines Freundes Carlos zu machen gedachte. Sich selbst treu, warf er sich in die Gegenoffensive: „Anfang der 80er Jahre wollte François Mitterrand mich umbringen lassen“, behauptete er in einem Zeitungsinterview und fügte gleich hinzu, der ebenfalls nicht gerade wegen seiner Ehrlichkeit bekannte Polizeikapitän Paul Barril sei mit dem Mord beauftragt worden.

Kapitän Barril, mit dem Vergès befreundet war, was er aber nicht erwähnte, machte – welch schöne Planung – gleich am nächsten Tag weiter mit einer Bestätigung, oder besser, er sagte, er „könne nicht dementieren“. Man habe ihm „auf höchster Ebene“ aufgetragen, Vergès umzubringen, da man diesen „im Zentrum des Terrorismus zu dieser Epoche“ wähnte und er daher als „vorrangiges Ziel“ der Mordoperationen des französischen Auslandsgeheimdienstes galt – der sogenannten „Opérations Homo“, „Homizid-Operationen“. Barril, einst Mitglied der Anti-Terror-Zelle im französischen Elysée-Präsidentenpalast, präzisierte noch, er sei bis nach Mauritius gereist, um den Anwalt zu finden, und die Aktion sei schließlich wegen „technischer Unwägbarkeiten“ abgeblasen worden.

Im Chor dementierten daraufhin einstige französische Geheimdienstleiter alle Anschuldigungen. Yves Bonnet, Chef der Gegenaufklärung DST zwischen 1982 und 1985 und heute UDF-Parlamentsabgeordneter, sagte kategorisch: „Es ist bei den sogenannten Geheimdiensten nicht üblich, Menschen physisch zu eliminieren, insbesondere einen Advokaten, einen Landsmann, der, um die Wahrheit zu sagen, uns nicht besonders interessierte.“ Viel Wahrheitsbeugung in wenigen Worten. Pierre Marion, damaliger Leiter der Auslandsspionage DGSE, war weniger sicher: Das angebliche Projekt sei „kurios“, aber man könne „nichts ausschließen“, obwohl er selbst natürlich von nichts gewußt habe.

Der Streit beginnt also gerade erst. War Vergès, der mondäne und provakative Anwalt, wirklich ein emsiger verborgener Terrorist? Er stand wohl seinen „anti- imperialistischen“ Klienten viel näher, als er es selber gerne zugibt, doch ihn als aktiven Terroristen darzustellen, ist zumindest übertrieben. Auch wenn man den Stasi- Dokumenten glaubt. Markus Wolf, einstiger Leiter der DDR- Auslandsspionage HvA, hat in einem demnächst im Nouvel Observateur erscheinenden Interview zu diesem Thema einige wichtige Fragen aufgeworfen: die Informationen der Stasi zu Carlos waren interne Berichte, für leitende Kader oder Politbüromitglieder gedacht; es könne sich dabei um einfache Wiedergaben von Gesprächen mit Carlos oder seinem deutschen Helfer Weinrich handeln, die sich gebrüstet hätten, Vergès sei „einer von uns“ – eine Angeberei mehr in einem von Angebern wimmelnden Milieu. Wolf: „Dieses Dokument beweist nichts.“

Dennoch könnten die französischen Geheimdienste Vergès für einen Terroristen gehalten haben, was die Frage aufwirft: Befand sich Vergès tatsächlich auf einer „schwarzen Liste“?

Das es solche Listen gibt, ist unstrittig. Die DGSE gibt regelmäßig Listen ihrer „Zielpersonen“ frei. Die „Opérations Homo“ werden nach einem alten Ritus festgelegt, der wohl aus den Zeiten des königlichen Hofes und seiner Art stammen muß, unliebsame Personen in die Bastille zu verbannen: Der Staatschef entscheidet persönlich auf Vorschlag des DGSE-Chefs. Um jedes Mißverständnis auszuschließen, wird die Liste auf einem Papierblatt ohne Briefkopf aufgeschrieben; der DGSE-Chef legt dieses Blatt dem Staatschef vor, der dann schweigend die zu eliminierenden Namen ankreuzt.

Eine ungeschriebene, aber um so mehr respektierte Regel besagt, daß solche Aktionen niemals in Frankreich stattfinden und niemals französische Bürger treffen sollen. Außerdem ist dafür nur der sogenannte „Aktionsdienst“ der DGSE zuständig, der direkt dem Chef unterstellt ist.

Die Anschuldigung Vergès' kann auf der Grundlage dessen, was man über all dies weiß, nicht widerlegt werden, wohl aber angezweifelt. Polizeikapitän Paul Barril unterstand nicht der DGSE – außer man unterstellt, der Elysée habe noch eigene Kräfte zur Verfügung; das ist zwar nicht auszuschließen, aber es hat bisher niemand behauptet. Wahr ist zwar, daß Vergès einmal auf einer „schwarzen Liste“ stand – aber das war zur Zeit des Algerienkrieges, und damals wurde die Aktion nach übereinstimmenden Zeugenaussagen abgeblasen.

Und wieviel Glauben darf man dem Perversen Vergès und dem Mythomanen Barril schenken? Wenig – sehr wenig. Seit sein Name der französischen Öffentlichkeit geläufig geworden ist, hat Barril bewiesen, daß er Experte für Desinformation ist. Zuletzt hat der nach einer Affäre um zu Unrecht des Terrorismus beschuldigte Iren in die Privatwirtschaft gegangene Barril, der Anfang der 90er Jahre zusammen mit einem Ex-Kollegen aus der Elysée-Zelle eine „Sicherheitsfirma“ namens Secret gründete, den angeblichen Flugschreiber des abgestürzten Flugzeugs der Präsidenten Ruandas und Burundis präsentiert, der dann gar kein Flugschreiber war. Wahrheit hin oder her: In Frankreich hat die große Terroristenentlarvung begonnen. Schon destilliert die Presse altbekannte Namen wie IRA, ETA, RAF, PFLP zu einem „terroristischen Netzwerk“ zusammen und vergißt dabei, viel interessanteren Fragen des Falles Carlos nachzugehen. Warum wohl? Maurice Najman, Paris