Kutschmas Kuchen

■ Die ukrainische Sommerpause geht zu Ende: Sewastopol erklärt sich für russisch, Boris Jelzin kündigt seinen Besuch an

Über Leonid Kutschma schrieb die ukrainische Tageszeitung Kiewskie Wedomosti noch vor kurzem nur voller Verachtung. Doch nun interessiert sich das Blatt für jedes Detail der Vergangenheit des frischgekürten ukrainischen Präsidenten. So wurde selbst der Kuhherde nachgespürt, auf die der heute 56jährige Leonid Kutschma als Junge hatte aufpassen müssen. Nach seinem überraschenden Sieg über den bisher fest etablierten Landesvater Leonid Krawtschuk Ende Juli brachten die Wedomosti eine Doppelseite aus Kutschmas Geburtsdorf im Tschernigower Gebiet.

Sein Studium in der Stadt begann Kutschma ohne Paß. Bauern bekamen damals keine Pässe in die Hand – eine einfache Maßnahme gegen die Landflucht. Wie immer, wenn in der ehemaligen UdSSR etwas außerhalb der Regeln geschah, fragt man sich, welchen Preis er dafür gezahlt hat. Daß er später als Partei-Organisator der berühmten „Juschmasch“-Raketenfabrik eng mit dem KGB zusammengearbeitet haben muß, ist nicht zu bezweifeln. Immerhin: Der heutige Professor der Dnjepropetrowsker Universität soll seine wissenschaftlichen Arbeiten über Raketentechnik selbst geschrieben haben.

Den Ausschlag für Leonid Kutschmas Wahlsieg haben zunächst natürlich die Stimmen in der Ostukraine und auf der Krim gegeben. Dort hoffte die russische Mehrheit auf sein Versprechen, das Russische neben dem Ukrainische zur zweiten Amtssprache zu erheben und einen Ausweg aus dem ukrainischen Wirtschaftselend in der engeren Zusammenarbeit mit Rußland zu suchen. Aber in den ländlichen Gebieten der Zentralukraine und bei der Armee war es daneben gerade seine demonstrative Bescheidenheit, die wirkte. Kohlrabikopf und Kasperlnase erinnern die Leute an den redlichen Vetter von nebenan. Der schmale Rettungsring um Kutschmas Taille scheint stets zu schrumpfen, Gesicht und Hände zieren sogenannte Besenreiser, von Hitze und Kälte geplatzte Äderchen; alles in allem die Physiognomie eines Mannes, der sich im Leben nicht geschont hat.

„I wo, der ist doch kein Manager, sondern einfach Politruk“, nörgeln die ukrainischen Grünen: „Er vertritt den selben militärisch- industriellen Komplex, der unser Land ökologisch und ökonomisch auf den Hund gebracht hat.“ Heute steht der ukrainische Präsident wie der Herrscher in Andersens „Des Kaisers neue Kleider“ da, praktisch nackt: ohne Regierung und ohne parlamentarische Basis. Die Zweidrittelmehrheit der schon im Frühjahr mit viel Schummelei gewählten Rada besteht aus Kommunisten und Sozialisten. Ende Juni setzte dieses Abgeordnetenkorps dem noch nicht ermittelten künftigen Staatsoberhaupt als neuen Premier Vitalij Massol vor die Nase.

Nicht nur, daß dieser einst Vorsitzender der staatlichen Planbehörde war, er verfügt überhaupt über eine markante Vergangenheit. Ebenso wie Kutschma war auch Massol schon einmal Ministerpräsident. 1990, noch unter dem Dach der UdSSR, hatte die ukrainische Korruptionswirtschaft sich längst ausgebreitet. Damals erzwangen die Kiewer Studenten Massols Rücktritt durch Hungerstreiks.

Welche exekutiven Funktionen Leonid Kutschma mit, gegen oder ohne diesen Ministerpräsidenten künftig ausüben darf, ist auch noch nicht heraus. Die Rada hat die Abstimmung über eine neue Konstitution bislang vor sich hergeschoben. Kein Wunder, daß Kutschma flugs die Ferien der Abgeordneten nutzte und, nach dem Vorbild seines Nachbarn Jelzin, seit einem Monat per Ukas regiert. Er unterstellte sich persönlich direkt den Ministerrat und die örtlichen Sowjets, um mehr Ellenbogenfreiheit für ökonomische Reformen zu bekommen.

In den letzten Wochen hat Kutschma bekannte internationale Wirtschaftsberater wie Anders Aslund und Rüdiger Dornbusch eingeladen, um ein Wirtschaftsprogramm zu entwickeln. Dieses soll den Internationalen Wirtschaftsfonds dazu motivieren, die der Ukraine Anfang Juli in Neapel zugesagte, aber bisher eingefrorene G-7-Hilfe in Höhe von über vier Milliarden Dollar loszueisen.

Der erste Präsidenten-Ukas Kutschmas stattete die Miliz mit großen Vollmachten zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens aus. Und die erste von ihm initiierte Veränderung im Kabinett traf den Innenminister, auf dessen Stelle er den Geheimdienstgeneral Wladimir Radschenko setzte. Der hatte in den Siebziger Jahren Dissidenten gejagt, weshalb seine Ernennung Kutschma ein paar gute Mitarbeiter aus dem Wahlkampf kostete. Daß er so starrsinnig an Radschenko festhält, begründet der neue Präsident der Ukraine mit der Notwendigkeit, die Jagd auf Wirtschaftsverbrecher auf Regierungsebene wiederaufnehmen zu wollen, die er als Ministerpräsident 1992 begonnen hat. Schon hat die Staatsanwaltschaft ein Verfahren gegen den noch kürzlich kommissarisch amtierenden Ministerpräsidenten Swjagilski eröffnet. Der soll für fünf Millionen Dollar Flugzeugtreibstoff in die USA verschoben haben. Es bedarf keiner Erklärung, daß die konsequente Verfolgung solcher Fälle Kutschmas Kreditwürdigkeit im Westen nur nützen kann. Als nächstes personalpolitisches Opfer könnte Verteidigungsminister Witali Radetzki fallen. Der hat gerade allzu eigenwillig der Türkei Waffenlieferungen versprochen – nicht zuletzt auch im Hinblick auf eine Aufhebung des Waffenembargos gegen Bosnien. Ohne Zweifel ist auch Kutschma an Waffenexporten aus seinem Lande interessiert, wo sich ein Drittel der einschlägigen Schmieden der Ex-UdSSR befinden. Die Zusagen Radetzkis verletzen aber einige gewichtige Dokumente über die Abstimmung der gemeinsamen außenpolitischen Tätigkeit, die Kiew gerade mit Moskau unterzeichnet hat.

Im Zuge der russisch-ukrainischen Annäherung fiel außerdem Anfang August eine ganze Reihe lästiger Zollbeschränkungen zwischen beiden Ländern. All diese Vereinbarungen sind Schritte auf dem Wege zum Vertrag über Freundschaft und Zusammenarbeit, der am 29. August, bei einem Besuches Präsident Jelzins in Kiew, feierlich unterzeichnet werden soll.

Daß er zwar eine pragmatische, kooperative Beziehung zum großen Nachbarn wünscht, nicht aber um den Preis eines Ausverkaufs der eigenen Interessen – dies demonstrierte Kutschma anhand der Krim-Frage. Bis zu Jelzins Besuch müssen Moskau und Kiew sich noch einigen, wie sie es künftig mit der Schwarzmeerflotte und dem Status der Stadt Sewastopol halten wollen. Während man sich die Flotte praktisch schon geteilt hat, gibt es in Bezug auf ihren Stationierungsort bisher keinen überzeugenden Kompromiß. Inzwischen haben die Krim-Separatisten ihren atmosphärischen Burgfrieden aufgekündigt, den sie dem neuen Präsidenten der Ukraine anfangs einräumten. Am extremsten in den Rücken fällt ihm dabei gerade der Stadtrat Sewastopols, indem er den Flottenstützpunkt und Kurort am Dienstag – einen Tag vor dem dritten Jahrestag der ukrainischen Unabhängigkeit – zu russischem Territorium erklärt hat. Ein Schritt, den allerdings die russische Regierung bereits als „nicht rechtskräftig“ abgelehnt hat und den auch Kutschma zurückwies.

Abzuwarten ist noch, wie die aus dem Urlaub kommenden Rada-Abgeordneten – vor allem aus dem Westen des Landes – Mitte September auf diese Veränderungen reagieren werden. Die im Sommer eingetrockneten ethnischen Risse können den ohnehin harten ukrainischen Kuchen immer noch sprengen, bevor die Hefe der Kutschmaschen Wirtschaftreformen aufgeht. Barbara Kerneck