: Von der Züchtigung zur Hilfe
■ Was junge Rechtsbrecher in Bremen erwartet / Vorbildliches Angebot
Die Jugend wird immer gewalttätiger und krimineller, die Menschheit verroht – so lautet eins der zur Zeit beliebtesten Klischees. Statistiken aber belegen, daß zwar die Anzahl der Straftaten von Jugendlichen tendenziell steigt, die Anzahl der jugendlichen Straftäter jedoch sinkt. Belegt ist außerdem, daß hinter 80 bis 90 Prozent der Straftaten Eigentumsdelikte stehen, und hinter diesen wiederum häufig Drogensucht. Mit zunehmendem Alter sinkt nicht nur der Drogenkonsum, sondern auch die Straffälligkeit.
Die Mehrheit der offiziell erfaßten jugendlichen Straftäter wird ein- oder zweimal registriert und tritt dann nicht mehr in Erscheinung. Nur eine kleine Minderheit durchläuft eine kriminelle Karriere, die sich bis ins Erwachsenenalter fortsetzt. „Bei dieser Gruppe sind deutlich die Personen überrepräsentiert, die sozial benachteiligt sind bzw. erhebliche Sozialisiationsdefizite aufweisen,“ konstatiert Christian Pfeiffer, Vorstandsmitglied der „Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen“.
Christian Pfeiffer ist Mitarbeiter des Hannoveraner Kriminologischen Forschungsinstitutes und Mitorganisator des am kommenden Sonntag in Bremen beginnenden, international hochkarätig besetzten Kongresses zum Thema –Junge Rechtsbrecher und ihre Familien – Die Frage der Menschenrechte'. „Jugendkriminalität ist ein vorübergehendes, entwicklungstypisches und insofern normales Verhalten“, bestätigt Ulrich Pelz, Geschäftsführer des Bremer „Vereins für Bewährungshilfe“ und damit des größten freien Trägers im Bereich der Arbeit mit jugendlichen StraftäterInnen. Der Schwerpunkt, weiß der Sozialpädagoge, liegt in der Altersgruppe der 14- bis 18jährigen, mit steigendem Alter zeigen sich sinkende Zahlen.
Im allgemeinen werden die jugendlichen Straftäter – Straftäterinnen tauchen nur vereinzelt auf – in drei Gruppen unterteilt. Die größte ist die der Bagatell- und Ersttäter, die zweite erfaßt diejenigen, die in einem bestimmten Zeitraum periodisch mit kleineren Delikten auffällig werden, die dritte Gruppe die Wiederholungstäter, deren Biographie eine steigende kriminelle Energie ausweist. Ulrich Pelz: „Das sind grundsätzlich junge Männer aus gestörten Lebenszusammenhängen.“ Menschen, ergänzt er, die keine vernünftigen Schulabschlüsse haben, oftmals aus kaputten Familien stammen, die weder am kulturellen Leben noch am gesellschaftlichen Reichtum partizipiert haben. „Im Gegenteil, die sind richtig arm. Die Sozialhilfe infantilisiert sich“, zitiert Pelz die Armutsstudie des DPWV, die belegt, daß immer mehr alte und junge Menschen in die Sozialhilfe gedrängt werden. „Das erleben wir hier hautnah.“
Schon aus diesen Gründen geht der wieder erstarkte Ruf nach härteren Strafen, nach Arrest und Knast an den realen Konflikten (auch der Gesamtgesellschaft) vorbei. Außerdem stellen nahezu alle zum Thema Jugendstrafvollzug erschienenen Beiträge fest, daß Haft und Arrest weder abschreckende Wirkung erzielen, noch zu einem „rechtschaffenen“ Lebenswandel erziehen, sondern im Gegenteil „abweichendes“ Verhalten verfestigen.
Diese Einsicht führte beim Bremer Senator für Justiz dazu, zusammen mit dem Senator für Jugend sowie dem Senator für Inneres zum 1. Januar 1989 den Diversionserlaß in Kraft zu setzen. Dieser Erlaß folgt dem Leitgedanken des neuen Jugendstrafrechts, das die Strafhaft als „ultima ratio“ definiert. Diversion wird verstanden als Verfahrenseinstellung, die unter bestimmten Auflagen an die Stelle der Anklage oder einer Verurteilung tritt. Im Vordergrund sollen vielmehr pädagogisch angepaßte Reaktionen auf die jugendspezifischen Straftaten stehen. Betreutes Wohnen, Täter-Opfer-Ausgleich, soziale Trainingskurse, Beschäftigungsprojekte gehören zu den Mitteln des ambulanten Bereichs, der die Gitter ersetzen soll.
Bremen beließ es nicht bei Erlassen, sondern sorgte für entsprechende Umverteilungen im Haushalt. Die Zuschüsse des Justizsenators an die Bremer Straffälligenhilfevereine stiegen von 24.000 Mark im Jahr 1981 auf heute knapp 1,5 Millionen. Somit kann Ulrich Pelz in der Betreuungsarbeit auf „ein relativ komplett ausgebautes Hilfsnetz“ zurückgreifen, um das ihn KollegInnen bundesweit beneiden. Die Projekte zur U-Haft-Vermeidung und Strafhaftverkürzung bewirkten beispielsweise, daß die Zahl der in der Jugendvollzugsanstalt Blockland einsitzenden Jugendlichen von 180 (1986) auf 60 herunterging.
Auch die Verhängung von Arreststrafen ist seltener geworden, seitdem die Jugendarrestanstalt Bremen-Lesum 1989 geschlossen wurde. Ein parlamentarischer Vorstoß des Justizsenators, der bei der JGG-Änderung die Streichung des 1940 eingeführten Zuchtmittels Arrest forderte, scheiterte an der Mehrheitsklippe, obgleich der Gesetzgeber selbst einräumt, daß die stationären Sanktionen schädliche Nebenwirkungen für die Inhaftierten haben und durch ambulante Alternativen zu ersetzen wären. Der „sharp shot“, wie JustizpraktikerInnen das bis zu vier Wochen dauernde Wegsperren bei Bibel und maximal einer Zigarette täglich nennen, wird trotz der Warnungen aus kriminologischer Forschung und Sozialarbeit von einzelnen RichterInnen Bremens noch immer als Rechtsmittel benutzt. Die Zahl der ArrestantInnen, die seit der Schließung von Lesum nach außerhalb verschoben werden, ging allerdings so stark zurück, daß der Verein für Bewährungshilfe die 1989 eingerichtete Stelle zur Arrestvermeidung wieder abschaffen konnte.
Die differenzierten stationären Angebote, die der Verein für Bewährungshilfe im Verbund mit anderen Trägern in Bremen vorhält, erreichen freilich nicht alle Jugendlichen, die zum harten Kern derer gehören, die regelmäßig und immer schwerere Delikte begehen. „Die Klientel ist kleiner geworden, aber auch sehr viel schwieriger“, konstatiert Pelz. Einzelne Resozialisierungsversu-che seien vergeblich, denn „die Paradigmen stimmen nicht mehr. Viele haben wirklich keine Chance mehr,“ weder auf dem Wohnungs- noch auf dem Arbeitsmarkt. Beispielsweise führen die meisten Qualifizierungsmaßnahmen auf den ersten Arbeitsmarkt, „doch dem sind die Profile Einzelner gar nicht gewachsen. Wir müssen weg von der Pädagogik und mit den Jugendlichen Lebensräume schaffen.“ Niederschwellige Beschäftigungsprojekte, wie sie der Verein mit dem Projekt „Schnelle Jungs“ verfolgt, einem Einkaufs-, Bringe- und Abholdienst. „Wir müssen diesen Leuten eine Chance geben zu beweisen, daß sie fähig sind, Dinge zu erfüllen. Dora Hartmann
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