Hohe Tiere und kleine Insekten

Alte und neue Genossen kommunizieren im „Neuen Deutschland“ unter der Rubrik „Denkzettel“ / Meinung zum Preis einer Kleinanzeige  ■ Von Barbara Bollwahn

„...Ich bin ein Deutscher mit großen, aber auch internationalen Erfahrungen. Mein Volk, dem ich angehöre und das ich liebe, ist das deutsche Volk, und meine Nation, die ich mit großem Stolz verehre, eine ritterliche, stolze und harte Nation. Ich bin Blut vom Blute und Fleisch vom Fleisch der deutschen Arbeiter und bis deshalb ihr revolutionäres Kind, der revolutionäre Führer geworden.“ Geschichtsbewältigung der besonderen Art. Diese Zeilen, gedruckt als private Kleinanzeige im Neuen Deutschland (ND), entnahm der anonyme Anzeigenkunde „Brizi“ einem Buch von Karl Eduard von Schnitzler, in dem er mit spitzer Feder den Arbeitersohn Ernst Thälmann zitiert.

„Brizi“ ist einer der Stammkunden der ND-Leser, die unter der Rubrik „Denkzettel“ private Kleinanzeigen aufgeben, um dort das zu schreiben, was sie sonst vielleicht nur hinter vorgehaltener Hand sagen würden. Die „Denkzettel“ sind manchmal kleine Botschaften oder auch rhetorische Kinnhaken zur Situation der Linken, der Politik im allgemeinen, der gegenwärtigen Rolle von Marx und Lenin, eine Plattform zum Für und Wider der PDS oder einfach Gelegenheit, Binsenweisheiten unters Volk zu streuen, wie es auch „Brizi“ gerne tut: „Bittere Wahrheiten verdauen sich leichter als gezuckerte Lügen.“ Gleichwohl werden Printmedien wie das PDS- Organ Berliner Linke, der Spiegel oder Verfassungsschutzberichte ebenso wie Fernsehsendungen kritisch beäugt.

Wer keine eigene Meinung zu verkünden hat, greift zu Zitaten von Politikern, Dichtern und Philosophen. Spitzenreiter unter den Politikern ist selbstredend Gregor Gysi („Eine Partei hört ja nicht auf zu existieren, wenn sie nicht in den Bundestag kommt.“). Aber auch mit Worten aus dem Mund von Johann Wolfgang Goethe werden heimliche Botschaften geschickt („Fahrt nur fort nach eurer Weise die Welt zu überspinnen! Ich in meinem lebendigen Kreise weiß das Leben zu gewinnen.“). Um die Mischung auch recht bunt erscheinen zu lassen, wird auch schon mal Sophokles bemüht („Suche nichts zu verbergen, denn die Zeit, die alles hört und sieht, deckt es doch auf.“) oder gar die Elberfelder Bibel („Benehmt euch als Freie und nicht als solche, die die Freiheit als Deckmantel der Bosheit haben“, Petrus 2,16).

Selbstredend gibt es die „Denkzettel“ im ND erst seit der Wende. Die Leser schickten ihre postsozialistischen Betrachtungen damals von sich aus als private Kleinanzeigen und nicht als Leserbriefe. „Als es uns zu bunt, äh zuviel wurde“, so die Anzeigenleiterin Schubert, wurde die Rubrik „Denkzettel“ eingerichtet. Zum Preis von 3,50 Mark pro Zeile kommt man mittwochs, freitags oder samstags in den überregionalen Anzeigenteil, für zwei Mark in die Berlin-Ausgabe. „Denkzettler“ sind aber auch Leserbriefschreiber und umgekehrt. „Zu DDR-Zeiten hätten die Leute das sicher nicht geschrieben“, schätzt Gisela Funke von der Anzeigenabteilung rückblickend die Lage ganz richtig ein. Als Gründe für das oft sehr kryptische Mitteilungsbedürfnis sieht sie ein „Abreagieren von Frust“, die Möglichkeit, „jemandem eine zu verpassen“, oder die „Suche nach Kontakten zu Gleichgesinnten“. Sie sind auch ein „Forum für Themen“, so Stamm-„Denkzettler GA“, die im Blatt nicht vorkommen. Ab und an kommt es vor, daß sich „Denkzettler“ Bücher schicken oder persönlich in Kontakt treten. Auch ein „Denkzettler“-Treffen hat es schon gegeben.

Kryptisch wie die Inhalte sind oft auch die Namen der Auftraggeber. Da findet sich „Das Sendungsbewußtsein“, das ein Stoßgebet an Gott sendet: „Hilf mir, daß ich offen bin, in jener Richtung weiterzugehen, die du für mich vorgesehen hast“ oder „Der Hammer“, der kundtut, daß die Änderung der Eigentumsfrage nicht zu wirklichem gesellschaftlichen Fortschritt im Sinne der Emanzipation des Menschen geführt hat. „Der beschädigte Kompaß“ hört auf das, was ihm seine innere Stimme sagt, und grenzt sich von den anderen in angemessener Weise ab. „Die unerfüllte Sehnsucht“ teilt mit, daß sie die ganze Zeit ihres Lebens auf der Suche nach einem Vater gewesen ist und sich jetzt endlich einen imaginären ausgesucht hat: Vater Staat. Glückwunsch.

Der „einbeinige Tänzer“ findet es „originell“, wenn Denkzettler mit „Die schreiende Diskrepanz“ oder sonstwie anonym unterzeichnen. Denn: „Wer kann schon wissen, welches hohe Tier oder kleine Insekt sich dahinter verbirgt“, gibt er zu bedenken. Ansonsten begrüßt er die Möglichkeit, „ehrlich zu schreiben, was man sonst vielleicht nur hinter vorgehaltener Hand sagen würde“.

Kritische Stimmen, die Licht in das Nostalgiedunkel bringen, finden sich eher selten unter den „Denkzetteln“. Meistens sind es Gleichgesinnte wie „Tante Anna“, „Onkel Hanne“ und „Claudia“, die sich gegenseitig attestieren, Fans voneinander zu sein, und sich durch Rückmeldungen das Gefühl geben, nicht allein auf dieser kapitalistischen Welt zu sein. Gedanken wie die des „Produktionsarbeiters“ dagegen bleiben meist unbeantwortet. Nicht ganz zu Unrecht macht er die „Denkzettler“ darauf aufmerksam, daß diejenigen, die immer noch davon schwärmen, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen abschaffen zu wollen, doch bedenken sollten, daß auch im Sozialismus Mensch durch Mensch ausgebeutet wurde, nur in einem anderen Aufzug als dem des Kapitalismus.

Daß die bezahlten Meinungsäußerungen nicht nur von Insidern gelesen werden, beweist die Anzeige eines freischaffenden amerikanischen Journalisten, der sich bei allen „Denkzettlern“ für den „exquisit-anregenden Lesestoff“ bedankt und bei der Anzeigen-Redaktion, daß sie durch die Arrangements den „Mini-Autoren“ ein Gesicht gebe. „Es ist schon Kunst zu nennen, mit kurzgefaßten Möglichkeiten einen Kontext zu bewirken“, läßt der Maxi-Autor wissen.