Der neidische Blick auf die Schwedinnen

■ Riesige Badeanzüge und das lang ersehnte Warten auf den ersten Kuß: so sah das züchtige Strandleben für spanische Frauen und Mädchen vor dreißig Jahren aus

In den sechziger Jahren konnte jeder Reisende die Nationalität der Frauen sofort ausmachen, die an den spanischen Stränden spazierengingen: er erkannte die Fischerinnen und die Bäuerinnen an ihren langen schwarzen Röcken, der Bluse und dem Kopftuch von der selben Farbe, und wenn der Reisende das Glück hatte, daß eine alte Frau des Orts vor ihm stolperte und die Beine von sich streckte, so konnte er gelbliche Leinenunterhosen sehen, die von der Taille bis zu den Knien reichten und einen durchgehenden Schlitz hatten, was ihr erlaubte, gebückt, mit leicht gespreizten Beinen, vor allen Leuten zu pissen, wobei die langen, seltsam bewegungslosen Röcke sie bedeckten. Der Reisende erkannte die spanischen Städterinnen an ihren riesigen Badeanzügen, die nur Kopf, Hals, die Beine und die Arme freiließen und die ihren starren Blick – eine Mischung aus Empörung, Bewunderung und Neid – auf die nackten Körper der Schwedinnen hefteten. Diese waren der Anlaß für ihr plötzliches Alleinsein, denn die spanischen Männer entschieden sich sofort für jene nackten und freien Ausländerinnen. Und wenn der Reisende um Mitternacht den Blick auf die örtlichen Ferienwohnungen richtete, so konnte er ein ungewöhnliches Spektakel genießen: An der ganzen spanischen Küste hatten Hunderttausende spanischer Jugendlicher um diese Zeit gerade ihren Eltern gute Nacht gewünscht und abgewartet, daß alle ins Bett gingen, um alsdann aus den Fenstern ihrer Schlafzimmer und von Balkons zu klettern, sich im Dunkeln über alte Dachschindeln zu tasten und sich schließlich in der Nacht zu verlieren. Alle als schwedische Touristinnen verkleidet, mit großzügigen Ausschnitten, Miniröcken und durchsichtigen Stoffen, nur daß die Abdrücke der tagsüber am Strand getragenen schrecklichen Badeanzüge sie leider verrieten und sich die Männer, fest an die Schwedinnen geschmiegt, über sie lustig machten – schließlich hatten die zur Tugend verpflichteten Spanierinnen noch nicht einmal den ersten Kuß hinter sich.

In den siebziger Jahren, als das ganze Land den Tod von Franco erwartete – fünf Jahre brauchte er – probten die Frauen, der unendlichen Agonie müde, den Aufstand. Sie gingen auf Konfrontationskurs zu dem Sterbenden und zum Vatikan und stürzten sich in etwas, das als „destape“ in die jüngere Geschichte Spaniens eingehen sollte, vom Verb „destapar“, aufdecken, entblößen. Sie zogen sich aus, in der Sonne, auf der Straße, am Strand, in den Nachtlokalen, vor ihren Eltern, ihren Ehemännern, ihren Kindern, ihren Freunden, Bekannten und Unbekannten. Die Filme jener Jahre zeigen unzählige nackte, lächelnde, herausfordernde Frauen. Und der neugierige Reisende konnte nun die Nationalität der Badenden durch entgegengesetzte Gründe ausmachen: die am wenigsten bekleideten, die nacktesten, das waren die Spanierinnen.

In den 80er Jahren stagnierte die Situation etwas, die weibliche Nacktheit wurde „normal“ in Spanien, Miniröcke wurden etwas Alltägliches, das weder Gewalt noch Empörung hervorrief. In diesem Sommer 1994 dürfte es dem Reisenden unmöglich sein, die Herkunft der Frauen herauszufinden, die nackt am Strand spazierengehen oder fast nackt in den nächtlichen Tanzlokalen sitzen. Denn inzwischen sind sie genauso frei und haben die gleichen Möglichkeiten wie die Schwedinnen. Emma Cohen, Madrid