Nebensachen aus Rio
: Vom Siegeszug der Schweineschwänze

■ Im Winter wärmt Brasiliens Nationalgericht die Mägen der Wohlhabenden

Wem läuft schon beim Anblick von gekochten Füßen, Ohren, Schwänzen und Zungen das Wasser im Munde zusammen? Die Extremitäten wohlgemästeter Schweine dümpeln in einer schwarzen Brühe und werden jedes Wochenende gleich tonnenweise von den Brasilianern verspeist. Denn bei dem zunächst etwas kannibalistisch anmutenden schwarzen Bohneneintopf handelt es sich um das brasilianische Nationalgericht Feijoada. Die tropische Köstlichkeit wärmt im brasilianischen Winter bei Temperaturen um die 25 Grad den verfrorenen Zeitgenossen südlich des Äquators den Magen. Mehr noch: Ein Haushalt ohne schwarze Bohnen, das tägliche Brot von 150 Millionen Brasilianern, ist hierzulande unvorstellbar.

Eigentlich sollten die Schweineschwänze, -füße und -ohren im Abfalleimer landen. Doch Brasiliens Großgrundbesitzer und Sklavenbesitzer, die die Überreste ihrer Koteletts und Schnitzel noch nicht einmal den Schweinen zum Fraß vorwerfen wollten, verfielen in einer Anwandlung seltenen Großmutes auf die Idee, ihre Sklaven damit zu beglücken. Die afrikanischen Zwangsarbeiter reicherten mit den Äußereien vom Schwein ihre eintönige Alltagskost aus Reis und Bohnen an, ließen die Flasche mit Zuckerrohrschnaps in der Runde kreisen und fingen an, vor Freude zu tanzen.

Große Möglichkeiten, sich dem Rhythmus der Musik hinzugeben, boten sich in der Sklavenhütte allerdings nicht. Die eisernen Ketten an den Knöcheln erinnerten die unfreiwilligen Brasilianer auch im tiefsten Rausch daran, daß sie nicht Herren ihrer selbst waren. Aber wie wäre ohne das Rasseln der Eisenketten der Samba entstanden? Bei ihrem Tanz waren die gefesselten Sklaven auf kleine schnelle Schritte beschränkt. So jedenfalls will es die Legende.

Samba und Karneval, Feijoada, Capoeira oder Candomblé haben mittlerweile in- und außerhalb Brasiliens für Furore gesorgt. Die explosive Mischung aus Samba und Karneval ist vom anrüchigen Vergnügen armer Leute zum Spektakel für zahlungskräftige und voyeuristische Zuschauer avanciert. Die Kampfsportart Capoeira begeistert zunehmend Amerikaner und Europäer, die sich von brasilianischen Meistern in Workshops in der Kunst der Körperbeherrschung unterweisen lassen. Und um der Meeresgöttin Iemanja zu huldigen, werfen nicht nur die Anhänger der afro-brasilianischen Religion Candomblé am Silvesterabend weiße Rosen in die Brandung. Die Jahreswende an der Copacabana ist nach dem Karneval das größte Fest in Rio.

Und die Feijoada? Eine festliche Feijoada, serviert in gußeisernen Töpfen und auf Bananenblättern, kostet in Rios vornehmen Hotels einen halben Mindestlohn. Mit anderen Worten: Die Schweinereste, die Brasiliens Sklaven bis 1889, als sie in die „Freiheit“ entlassen wurden, gratis bekamen, können sich deren Nachfahren heute nicht mehr leisten. Für einen Großteil der brasilianischen Bevölkerung schrumpft das farbenfrohe Nationalgericht – neben Bohnen, Schweinefleisch und Reis werden Orangen und grüner Kohl gereicht – zu einem schwarz-weißen Kontrast: Reis und Bohnen.

Viele sehen im alltäglichen Überlebenskampf ganz und gar schwarz, ihnen bleiben nur noch die Bohnen. Und 32 Millionen Brasilianer, so die offiziellen Zahlen des Statistikamtes, hoffen schlicht auf Gottes Hilfe, um am nächsten Tag etwas Eßbares in ihrem Blechnapf vorzufinden. Astrid Prange