Gesamtserbische Interessen

■ Karadis Sturz ist für Belgrad unabdingbar

Sarajevo (taz) – „Was ist eine Volksabstimmung wert, bei der Räuber darüber zu befinden haben, ob sie das Zusammengeraubte wieder hergeben oder behalten dürfen?“ fragen sich dieser Tage viele in Sarajevo. Doch auf der anderen Seite der Linien, in der sogenannten „Serbischen Republik“, wird der Volksabstimmung ein edlerer Rahmen zugebilligt. Zumal dort noch gar nicht ausgemacht ist, ob sich alle „Räuber“ dem Verdikt ihrer Führung beugen und nein zum Kontaktgruppen-Plan zur Teilung Bosniens sagen werden. Denn seit dem Beginn des Streites zwischen den serbischen Führern Radovan Karadžić (Bosnien) und Slobodan Milošević (Serbien) dürfte eine solche Abstimmung selbst bei hartgesottenen Tschetniks zu Gewissenskonflikten führen.

Zwar ist das Schisma nicht völlig grundsätzlich, doch hinter den unterschiedlichen Positionen verbergen sich unterschiedliche Strategien. So sind sich der bosnische Serbenführer und der serbische Präsident darin einig, daß mit dem Auseinanderbrechen Jugoslawiens ein großes Serbien zu entstehen habe. Ebenfalls unstrittig ist, daß zu diesem Staat alle Gebiete gehören sollen, in denen Serben wohnen – also auch diejenigen außerhalb der restjugoslawischen Republiken Serbien und Montenegro, in Kroatien und Bosnien- Herzegowina. Da dies mit friedlichen Mitteln nicht erfüllbar schien, versuchten beide serbischen Führer ihr gemeinsames Ziel mit kriegerischen Mitteln zu erreichen.

Doch die Hoffnung, der Krieg würde mit Hilfe der zu Serbien stehenden „Jugoslawischen Volksarmee“ JNA in einigen Wochen entschieden sein, hat sich weder 1991 in Kroatien noch ein Jahr später in Bosnien erfüllt. Immerhin gelang es in beiden Fällen, in den Anfangswochen fast ein Drittel des kroatischen und mehr als zwei Drittel des bosnischen Territoriums zu besetzen. Doch angesichts der (nichtgeplanten) Länge des Krieges, der enormen wirtschaftlichen Schwierigkeiten Serbiens sowie des langsam, aber stetig wachsenden militärischen Potentials der Gegner „Großserbiens“ muß den Politikern in Belgrad jetzt daran gelegen sein, zuvörderst das Erreichte zu konsolidieren. Zudem ist Milošević kein Heißsporn, sondern ein kühl rechnender Politiker, dem nicht entgangen ist, daß sich mit der fester werdenden Haltung der USA zugunsten der kroatisch- bosnischen Föderation die Wende im Krieg angebahnt hat.

Gleichzeitig darf mit dem serbischen Embargo gegenüber den bosnischen Serben deren militärisches Potential nicht geschwächt werden – dies verstieße ja auch gegen Miloševićs großserbische Ziele. Auch deutet die Weigerung des serbischen Präsidenten, internationale Beobachter an den Grenzen zuzulassen, darauf hin, daß nach wie vor Waffen geliefert werden – sofern dadurch nicht Risiken für Serbien selbst entstehen. Denn letztendlich steht der bosnische Serbenführer in einem anders gearteten politischen Koordinatensystem als der serbische Präsident: Karadžić hat einen Krieg in Gang gesetzt, der nicht nur die Vertreibung aller Nichtserben zum Ziel hatte, sondern auch die Aneignung fremden Eigentums.

Einer der wichtigsten Hebel zur Mobilisierung der serbischen Landbevölkerung für den Krieg war es, Angst vor der Unabhängigkeit Bosnien-Herzegowinas zu erzeugen. Dies gelang vor allem deshalb, weil die beiden großen Landreformen (1918 und 1945) die Serben Bosniens begünstigt hatten. Eine muslimische Dominanz in einem unabhängigen Bosnien erzeugt bei dieser Landbevölkerung nach wie vor die Furcht, die ehemaligen muslimischen Großgrundbesitzer könnten ihr Eigentum zurückfordern. Der Krieg verhinderte nicht nur das, sondern erlaubte zudem die Aneignung des Eigentums der Vertriebenen. Nicht zuletzt dieser Zusammenhang erklärt – wenn auch nicht umfassend – die Brutalität, die nicht nur von verbrecherischen Banden, sondern auch von Nachbarn gegenüber Nachbarn angewandt worden ist.

Würde nun Karadžić die Annahme des Kontaktgruppen-Plans erlauben, dann müßten 20 Prozent des eroberten Landes an die andere Seite abgetreten werden. Doch da angesichts der Kriegspropaganda und des „schlechten Gewissens“ ein Zusammenleben in einem muslimisch dominierten Bosnien nicht mehr möglich erscheint, bliebe vielen Serben bei einer Annahme des Teilungsplans nur noch die Auswanderung. Für Karadžić bedeutet dies einen enormen Druck von unten. Hinzu kommt eine serbisch-bosnische Armee, die sich angesichts ihrer psychologischen Grundlage, einer ausgeprägten „Sieger-Überheblichkeit“, nicht erlauben darf zurückzuweichen.

Das politische Schicksal des bosnischen Serbenführers hängt also von seiner Fähigkeit ab, das eroberte Land zu erhalten. Angesichts dessen liegt der Ausgang der Volksbefragung auf der Hand. Der Hinweis aus Belgrad, daß auf dem serbisch-bosnischen Gebiet nur noch 500.000 Serben lebten und jene 300.000 Serben, die während des Krieges abgewandert sind, auch mitstimmen sollten, zeigt an, daß man dort von einem Stimmungsumschwung schon vor Tagen nicht mehr überzeugt war. Für Milošević wird sich weiter die Frage stellen, wie er die Geister, die er selbst gerufen hat, wieder loswerden kann. Denn die Wende im Krieg und die geschickte Strategie der zahlenmäßig inzwischen überlegenen Bosnischen Armee, die serbischen Kräfte an einer 14.000 Kilometer langen Frontlinie durch Angriffe an verschiedenen Stellen breit gestreut zu halten und ihnen stetige Niederlagen beizubringen, drängt auf die Unterzeichnung des Plans der Kontaktgruppe im gesamtserbischen Interesse. So werden die Spannungen zwischen Karadžić und Milošević auch nach einem für Karadžić günstigen Ausgang der Volksbefragung weiter steigen. Der Sturz des bosnischen Serbenführers ist für Belgrad unabdingbar geworden. Erich Rathfelder