Die Rolle des Mannes ist Konsens

Entgegen gesellschaftlichen Konventionen verwenden ägyptische Frauen zunehmend Verhütungsmittel. Die Forderung „Mein Bauch gehört mir“ ist den meisten Ägypterinnen jedoch fremd  ■ Aus Kairo Ivesa Lübben

Die junge Frau mit dem schmalen, müden Gesicht hebt vorsichtig das schwarze, dünne Tuch von dem Bündel auf dem großen dunkelbraunen Holzbett. Darunter liegt zusammengerollt ein winziger Körper. Die viel zu dünnen Ärmchen und Beinchen sind mit Pusteln übersät. Das Mädchen ist eine Woche alt. Die Mutter ist ratlos. Sie weiß nicht, was das Kind hat. „Sie ist krank, weil ich krank bin“, sagt sie resigniert. Die Frau leidet unter niedrigem Blutdruck, hat eine durch Mangelernährung verursachte Anämie und eine angeschlagene Niere.

Tamra Mahmud ist 32 Jahre alt. Sie lebt mit ihren fünf Töchtern in einem Zimmer im Kairoer Armenviertel Dar-al-Salam. Die Einrichtung ist spärlich: gegenüber dem Bett ein alter Kleiderschrank, ein kleiner Tisch und eine Holzbank und zwei Stühle. Auf dem Flur waschen Frauen, die mit ihren Familien in jeweils einem der Nachbarräume leben, in großen Aluminiumschüsseln Wäsche. Jeden Tag ist eine andere dran.

Tamra wurde mit 17 von ihrer Familie verheiratet. Der Mann hatte bereits eine Ehefrau. „Aber was sollte ich machen, sagt sie. „Meine Familie kommt aus dem ,Said‘, aus Oberägypten. Bei uns Saidis kann ein Mädchen nicht sagen: ,Der ist doch schon verheiratet‘ oder ,Der ist mir aber zu jung‘. Als Mädchen hast du keine Meinung zu haben.“ Eigentlich wollte Tamra gar nicht so viele Kinder. Nach jeder Schwangerschaft versuchte sie es mit der Pille, aber die vertrug sie nicht wegen ihrer Anämie. Die Spirale ließ sie sich wegen der ständigen Blutungen nach kurzer Zeit wieder rausnehmen – und wurde prompt wieder schwanger. Und jedesmal hoffte sie, daß es diesmal wenigstens ein Sohn würde. Die andere Frau ihres Mannes hat zwei Söhne. Und solange sie selber keinen hat, fühlt sie sich als Ehefrau zweiter Klasse.

„Eine unfruchtbare Frau ist wie der ausgetrocknete Boden. Aus ihr entspringt nichts Gutes.“ Dieses ägyptische Sprichwort hat auch heute wenig von seiner Bedeutung eingebüßt. Ehe ist noch immer das Lebensziel der meisten jungen Mädchen und Männer. Nichteheliche Beziehungen sind ein gesellschaftliches Tabu. Zweck der Ehe sind zuallererst Kinder. „Die einzig denkbaren Alternativen sind: Bekomme ich das erste Kind unmittelbar nach der Hochzeit, oder warte ich noch ein wenig“, meint die Psychologin Aida Seif Al-Dawleh. Aber die meisten jungverheirateten Frauen wollen ihre Fruchtbarkeit so schnell wie möglich unter Beweis stellen. Nur ein Prozent aller Frauen nimmt Verhütungsmittel vor der Geburt des ersten Kindes, hat eine Studie des „Nationalen Rates für Bevölkerungsangelegenheiten“ ergeben. Sollte sich herausstellen, daß eine Frau unfruchtbar ist, so gibt der Islam ihrem Mann das Recht, sich scheiden zu lassen oder eine Zweitfrau zu nehmen.

Einer der Gründe, warum viele Frauen nur sehr zögerlich zu Verhütungsmitteln greifen, ist die Angst, ihr Kind könnte vom „bösen Blick“ getroffen werden und sterben. Noch immer stirbt auf dem Land jedes achte Kind, bevor es das fünfte Lebensjahr erreicht. Bis heute hat sich in weiten Kreisen Ägyptens eine alte Tradition gehalten, die dieser Angst Ausdruck verleiht. Die Eltern leihen sich in den ersten zwei Wochen Kleidungsstücke für ihr Neugeborenes aus und kaufen erst dann die eigene Babyausstattung, wenn sie sicher sind, daß das Kind die Geburt überlebt hat.

Kinder sind in Ägypten zu einem hohen Kostenfaktor fürs Familienbudget geworden. Nur eine gute Ausbildung sichert die Zukunft, und die ist teuer. In Städten wie Kairo ist das Heiratsalter rapide gestiegen. Viele junge Männer müssen jahrelang im Ausland arbeiten, bis sie das Geld für eine eigene Wohnung zusammenhaben. Die aber ist die erste Bedingung der meisten Brauteltern bei den Verhandlungen über den Ehevertrag mit ihrem zukünftigen Schwiegersohn, an der schon so manche Liebesbeziehung gescheitert ist. Auf dem Land wurden die Schollen durch Erbteilung immer kleiner. Ägypten besteht fast ausschließlich aus Wüste, und die inzwischen 57 Millionen ÄgypterInnen leben auf 5.000 Quadratkilometern Kulturland an den beiden Ufern des Nils und im Delta – einer Fläche, kleiner als das Bundesland Bayern. Die Wasserressourcen sind beschränkt. Es regnet fast nie. Der Nil ist die einzige Wasserquelle des Landes.

Auch die staatliche Infrastruktur konnte mit dem raschen Wachstum der Bevölkerung, die sich seit Anfang der 60er Jahre mehr als verdoppelt hat, nicht mithalten. Viele Schulen arbeiten im Dreischichtensystem. In Kairo leben zwei Drittel aller Menschen in illegal errichteten Siedlungen, und nur 30 Prozent aller Haushalte sind an das Abwassersystem angeschlossen. Mit einem ehrgeizigen Familienplanungsprogramm versuchte die Regierung Herr über das Bevölkerungswachstum zu werden.

„Als ich vor zwölf Jahren begann, Medizin zu studieren, machte ich ein Praktikum auf einer Frauenstation. Damals war es ganz normal, daß eine Frau eingeliefert wurde, die zwölf Kinder hatte und nun das dreizehnte zur Welt bringen wollte. Oder sie hatte acht und kriegte das neunte. Wenn man sie dann fragte: ,Wie alt waren Sie, als Sie heirateten?‘, antwortete sie ,zwölf‘ oder ,dreizehn‘ oder ,vierzehn‘“, erinnert sich die junge Frauenärztin Nadia Yussri, die in einer der über 4.000 Familienplanungseinheiten des Bevölkerungsministeriums arbeitet. „Als ich dann nach dem Studium anfing zu arbeiten, merkte ich, wieviel sich inzwischen geändert hatte. Jetzt kam eine Frau mit vier Kindern, um das fünfte zu kriegen, oder sie kriegte das vierte. Das höchste, was ich seither gesehen habe, war eine Frau, die ihr sechstes Kind zur Welt brachte. Wenn man heute Frauen fragt, wie alt sie bei der Hochzeit waren, so sagen sie: zweiundzwanzig, dreiundzwanzig oder vierundzwanzig.“

Vor dem Fenster ihrer Praxis schlängelt sich eine schmale Asphaltstraße durch die sandsteinfarbenen Felsen. Von Eseln gezogene Holzkarren und Kleinlaster mit riesigen Weidenkörben voller Müll fahren vorbei. Über der ganzen Gegend liegt Verwesungsgeruch. Hier oben auf dem Moqattemberg leben die „Zabalin“, die privaten Mülleute Kairos. In den Höfen der zweistöckigen Backsteinhäuser sortieren sie Abfälle, um sie zur Wiederaufbereitung zu verkaufen: Plastikflaschen auf den einen, Aluminium auf den zweiten Haufen. Mit den Essensresten werden die Schweine gefüttert.

„Als das Zentrum 1989 eröffnet wurde, kam niemand. Die Leute dachten, der Staat sei gekommen, um ihnen vorzuschreiben, wieviel Kinder sie in die Welt zu setzen haben. Wir sind dann von Haus zu Haus gegangen, um ihnen zu erklären, daß es uns um die Gesundheit der Frauen geht. Wir führen Ehevorbereitungskurse für junge Brautleute durch, Still- und Ernährungsseminare betreuen Frauen während der Schwangerschaft.“

Bis heute bekommen fast drei Viertel aller Ägypterinnen ihre Kinder zu Hause mit Hilfe einer Daya, einer traditionellen Hebamme. Nur eine Minderheit geht regelmäßig zur Schwangerschaftsvorsorge. Alles, was mit Menstruation, Schwangerschaft und Geburt zu tun hat, gilt als etwas Natürliches, für das kein Arzt benötigt wird. Frauenleiden, wie zum Beispiel Menstruationsbeschwerden, werden hingenommen. Sie sind für eine Frau die Bestätigung der eigenen Fruchtbarkeit, dafür, daß sie noch Kinder bekommen kann, und zugleich Schutz davor, daß ihr Mann eine zweite Frau nimmt.

Trotzdem wollen die Ägypterinnen heute nicht mehr als zwei oder drei Kinder, wie eine Untersuchung der Frauengruppe Al- Mara al-Gedida (Die neue Frau) gezeigt hat. Meistens sind es die Männer, die auf mehr Nachwuchs drängen. Das gilt gerade in den Moqattembergen, wo Kinder schon von klein auf als unentgeltliche Arbeitskräfte den Vätern bei der Sortierung des Mülls und bei der Schweineaufzucht helfen.

Nadia Yussri legt in ihrer Praxis Wert darauf, daß der Gebrauch von Verhütungsmitteln ein gemeinsamer Beschluß der beiden Eheleute ist. Wenn eine Frau sich eine Spirale einsetzen lassen will, fordert sie sie auf, ihren Ehemann mitzubringen. Und wenn sich eine Patientin darüber beklagt, daß ihr Ehemann ihr den Gebrauch von Verhütungsmitteln untersagt hat, dann sucht die Ärztin den Mann schon mal zu Hause auf, um ihn davon zu überzeugen, daß es für die Gesundheit der Frau besser ist, keine Kinder mehr zu kriegen oder wenigstens die nächste Schwangerschaft einige Jahre aufzuschieben.

Die Forderung „Mein Bauch gehört mir“ ist den meisten ägyptischen Frauen fremd. Für sie ist das „Ich“ unabtrennbarer Bestandteil eines größeren „Wir“: der Familie, des Clans, der Gesellschaft. „Die Logik der Selbstbestimmung des Individuums existiert bei den wenigstens Frauen in Ägypten – selbst bei mir nicht, obwohl ich mich selber als Feministin bezeichnen würde“, sagt Aida Seif Al- Dauleh. „Wenn ich ein Kind will, werde ich das gemeinsam mit meinem Partner entscheiden.“ Die ägyptische Frau werde alles in ihren Kräften Stehende tun, „Beschlüsse über Anzahl der Kinder und Zeitpunkt der Geburten gemeinsam innerhalb einer Beziehung zu fassen. Die ägyptische Frau ist in einem großen Maße bereit, sich dem Willen des Mannes unterzuordnen. Denn es gibt einen unausgesprochenen gesellschaftlichen Konsens darüber, daß das Wort des Mannes zu befolgen ist.“ Dennoch sei die ägyptische Frau „keine schwache Frau“. Sie mache „ihre eigene Rechnung auf“ und ziehe Grenzen. „Wenn diese Grenzen überschritten werden, setzt sie alles in Bewegung.“ Das müsse nicht notwendigerweise die Form des offenen Aufruhrs annehmen. Es gebe viele Handlungsvarianten: „Angefangen von dem Mädchen, das den Ehemann, den man ihr aufzwingen will, ablehnt, über die Frau, die sich hinter dem Rücken ihres Mannes eine Spirale einsetzen läßt, bis hin zur gläubigen Muslimin mit Kopftuch, die heimlich abtreibt – obwohl die Abtreibung nach islamischer Vorstellung eine Sünde ist und bei uns verboten ist – weil sie selber der Meinung ist, kein weiteres Kind mehr zu ertragen, bis zu der Frau, die zu ihrem Mann sagt: Ich nehme meine Kinder und gehe.“