Der autodidaktische Jurist

■ Häftling wollte Rechtskenntnisse in bare Münze umsetzen Von Kaija Kutter

Wegen Betruges mußte sich gestern der ehemalige Strafgefangene Michael St. vor dem Amtsgericht verantworten. Er hätte vor Angehörigen seiner Mithäftlinge bewußt den Eindruck erweckt, er sei Rechtsanwalt oder Betreuer, und von ihnen für seine Dienste Geld verlangt, lautete der Vorwurf des Staatsanwalts. Der Prozeß endete mit Freispruch.

Redegewandt, freundlich, im hellen Anzug erschien der 42jährige vor Gericht; da ihm ein Pflichtverteidiger nicht zustand, übernahm er diese Rolle selbst. „Guten Tag, mein Name ist Michael St.“, stellte er sich höflich der ersten Belastungszeugin vor, stand auf und sah sie dabei an.

Sie habe den Angeklagten im August 1992 auf einem Sommerfest in Fuhlsbüttel getroffen, wo sie ihren Lebensgefährten Willi W. besucht hatte, erzählte die Bibliotheksangestellte. W. wollte unbedingt die Wiederaufnahme seines Verfahrens erreichen, hatte aber kein Geld für einen Anwalt. Da habe St. sich angeboten, entsprechende Schriftsätze zu verfassen, für 100 bis 150 Mark das Stück. Die Zeugin: „Er sagte, daß er Rechtskenntnisse hat, weil er mal Jura studiert hat.“

Darauf der Angeklagte: „Erinnern Sie sich an unser erstes Gespräch? Ich habe gesagt, daß ich autodidaktisch in Haft Jura studiert habe.“ Darauf die Zeugin: „Sie haben sich als Jurist aufgespielt.“ Darauf der Angeklagte: „Ich habe ausdrücklich gesagt, daß ich kein Rechtsanwalt bin. Weil ich das auch gar nicht dürfte.“ Die Frau stimmte zu.

Auch die übrigen Zeugen nahm Michael St. sanft, aber bestimmt ins Verhör. Das Hilfsangebot war „damals für mich wie ein Strohhalm“, berichtete der inzwischen entlassene Willi W. Aber als sein Anwalt später die von St. verfaßten Schriftsätze sah, habe er nur mit dem Kopf geschüttelt. Der Angeklagte entlockte seinem Ex-Mithäftling das Eingeständnis, daß über die durch ihn eingeleiteten Verfahren noch nicht entschieden wurde, sein Einsatz also nicht vollends vergebens war.

Traurig die Begleitumstände der Zeugenaussage des Rentners Horst B. Dessen Sohn Benno war ebenfalls Mithäftling und „Klient“ des Angeklagten gewesen. 2500 Mark hatten die Eltern Michael St. überwiesen, die dieser am Telefon für seine „Schreibhilfe“ und die Vermittlung eines Arbeitsplatzes verlangt hatte. Doch Benno B. konnte das Gericht dazu nicht hören. Er ist 90 Prozent schwerbehindert, „völlig durchgedreht“, wie es sein Vater formulierte. „Er war 16 Monate in U-Haft, immer in Einzelzellen, da muß er ja verrückt werden.“ In seinem Wahn habe sein Sohn einen Wärter verprügelt. Darauf habe man ihn drei Tage nackt in einer Dunkelzelle festgebunden. Horst B.: „Davon hat er sich nicht wieder erholt.“

Nachdem der Vater seinen Kummer losgeworden war, rang der Angeklagte ihm die entscheidende Aussage ab. „Wer hat Ihnen denn gesagt, daß Sie sagen sollen, daß ich mich als Betreuer ausgegeben hab'?“ Horst B. „Das hat niemand gesagt. Da wissen wir nichts von.“

„Ich freue mich, daß ich Sie auch mal freisprechen kann“, sagte Richter Nils Graue zum Schluß. Denn des Betruges wurde St. nicht überführt - das Geld hatte er zurückgezahlt. „Inwieweit dies unerlaubte Rechtsberatung ist, war nicht Gegenstand des Verfahrens.“ Darauf der Angeklagte ehrerbietig zum Richter: „Ich habe nicht bewußt Unrechtes getan. Wenn ich so erfahren wäre wie Sie, wäre mir das nicht passiert.“