Der hurtige Herr der Hasen

Dieter Baumann begeistert beim ISTAF das Publikum und gewinnt gegen exzellente Konkurrenz ein dramatisches Rennen über 5.000 Meter  ■ Aus Berlin Matti Lieske

Es gibt zwei Sorten von Langstreckenrennen. Jene bei Meisterschaften, die in der Regel relativ langsam und von taktischen Geplänkeln bestimmt sind, und jene bei den diversen Leichtathletik- Meetings, wo meist ein paar hasenfüßige Tempomacher vornewegsausen, um den Weltrekord eines Topläufers vorzubereiten. Dieter Baumann liebt eher die erste Variante. Der ausdauernde Schwabe ist kein Tempoläufer, seine persönliche Bestzeit über 5.000 Meter liegt etliche Sekunden über den Höchstmarken der afrikanischen Cracks. Dennoch gewann Baumann bei den Olympischen Spielen 1988 in Seoul Silber und holte sich 1992 in Barcelona gar die Goldmedaille. Wenn es nach ihm ginge, würde zumindest bei den „Golden Four“ – den Sportfesten in Oslo, Zürich, Brüssel und Berlin – ohne Hasen gelaufen: „Dann hätte ich bessere Chance.“ So aber freue er sich halt auf die Meisterschaften.

In der Saison 1994 gewann Baumann jedoch nicht nur den Europameistertitel, sondern war auch bei den Meetings erfolgreich. „Ich habe in diesem Jahr nur zwei Rennen verloren, einen 1.500 m-Lauf in Hengelo und den Vorlauf bei der EM“, freut sich der 29jährige, der fast das gesamte letzte Jahr wegen einer Verletzung aussetzen mußte, über seine wiedergefundene Form. „Vor einem Jahr um diese Zeit habe ich auf dem Rad gesessen und mich gefragt: Was machst du hier eigentlich?“

Inzwischen weiß Dieter Baumannn wieder genau, was er macht. Er rennt, und am allerliebsten den Afrikanern davon. So auch beim ISTAF in Berlin, wo er in einem äußerst merkwürdigen und immens dramatischen Rennen ein marokkanisches Trio mit dem Olympiasieger Khalid Skah hinter sich ließ, danach erst eine ausgelassene Personality-Show für das Publikum, anschließend eine zweite für die Journalisten abzog. „Ein toller Lauf“, begeisterte sich der eloquente Sportler, der sich durchaus als Künstler („Laufen ist Ästhetik, Kreativität“) sieht, „da war alles drin, was ein Rennen braucht. Jede Musik wurde gespielt.“ Dabei war ursprünglich alles auf Skah ausgerichtet, der, wenn nicht Weltrekord, so doch persönliche Bestzeit laufen wollte, was bei dem Marokkaner sehr nahe beieinanderliegt. Doch wie so oft in dieser Saison versagten die Hasen, besser gesagt, es ließen sich gar keine blicken. Vorher, wußte Baumann, habe es Krach im marokkanischen Team gegeben, Skahs Landsleute hielten sich selbst für zu gut, um die Drecksarbeit für ihren Star zu verrichten.

„Ich habe gleich gemerkt, daß Skah nicht wollte“, so Baumann, „das sah man daran, daß er schon in der zweiten Runde geführt hat.“ Die Verweigerung der Marokkaner führte zu einer interessanten Dramaturgie. „Es war ein Spiel, es war super“, schmunzelte Baumann, der hin und wieder zum Vergnügen des Publikums selbst die Führung übernahm, „was ich eigentlich nicht so gern tue“, und im übrigen seine eigenen Hasen mitgebracht hatte, die im Gegensatz zu denen von Khalid Skah „gute Arbeit leisteten“. Baumanns Wasserträger waren natürlich nicht dazu da, auf Teufel komm raus Tempo zu machen, sondern dazu, Lücken zu schließen, den Lauf je nach taktischer Erfordernis zu beschleunigen oder zu verschleppen, eine Vorgehensweise, die man sonst eher von Miguel Induráins Team bei der Tour de France kennt. Manchmal pfiff Baumann aber auch auf die Hasen und ergriff selbst die Initiative. „Spontaneität muß sein.“

Die Sache klappte hervorragend. In der letzten Runde zog Baumann den Spurt an, Skah versuchte zwar, eingangs der Zielgeraden vorbeizuziehen, aber: „Er griff nicht so an, wie man hundert Meter vor dem Ziel angreifen muß“ (Baumann). Der Deutsche siegte in vorzüglichen 13:12,47 Minuten und in seinem Sog gelang auch dem ebenfalls von Baumanns Ehefrau Isabell trainierten Stephane Franke als Fünftem eine hervorragende Zeit (13:14,68). „Ja hoppla“, erinnerte sich Baumann an die Szene, als ihn Franke eine Runde vor Schluß unversehens überholte, „als Stephane plötzlich an mir vorbeidüste, habe ich gedacht, ,Auauauauau, so langsam sind wir doch au' nicht.‘“

Mit seinem Sieg qualifizierte sich Dieter Baumann für das Grand-Prix-Finale am Samstag in Paris, wo er wohl auch teilnehmen wird: „Die Form ist da, der Wettkampf lukrativ.“ Schon vor dem ISTAF habe er mit dem Kenianer Moses Kiptanui gescherzt: „Wenn ich heute gewinne, laufe ich in Paris gegen dich.“ – „Prima, dann brate ich dir einen über“, entgegnete Kiptanui, in Berlin über 3.000 m-Hindernis erfolgreich. Gleich nach dem 5000 m-Sieg sei der Kenianer zu ihm gekommen und habe gesagt: „Jetzt mußt du laufen!“

In Berlin schien es, als ob Dieter Baumann derzeit nichts lieber tut als laufen. Er genießt es, „daß die Leute auch wegen mir ins Stadion kommen“, und nicht nur wegen solcher Athleten wie Colin Jackson oder Mike Powell, die sich in Berlin den 20-Kilo-Goldbarren für Siege bei allen vier Golden-Four- Meetings sicherten. Andererseits ist der Olympiasieger froh, daß seine Popularität nicht die Dimensionen einer Franziska van Almsick oder eines Boris Becker erreicht: „Ich kann durch Ulm marschieren, mir eine Unterhose kaufen, und keinen kümmert's.“

53. ISTAF, Frauen, 200 m: 1. Merlene Ottey (Jamaika) 22,07 Sekunden, 3. Gwen Torrence (USA) 22,15, 3. Irina Priwalowa (Rußland) 22,37; 1.500 m: 1. Angela Chalmers (Kanada) 4:04,39 Minuten, 2. Hassiba Boulmerka (Algerien) 4:05,73; 5.000 m: 1. Alison Wyeth (Großbritannien) 15:10,38 Minuten, 2. Kathrin Wessel (Berlin) 15:10,84; Weitsprung: 1. Heike Drechsler (Jena) 6,91 m; Männer, 110 m-Hürden: 1. Colin Jackson (Großbritannien) 13,02 Sekunden; 100 m: 1. Dennis Mitchell 10,00 Sekunden, 2. Jon Drummond (beide USA) 10,01, 3. Linford Christie (Großbritannien) 10,02; 400 m: 1. Michael Johnson 44,04 Sekunden; 5.000 m: 1. Dieter Baumann (Leverkusen) 13:12,47 Minuten; 2. Khalid Skah (Marokko) 13:12,74; Stabhochsprung: 1. Sergei Bubka (Ukraine) 6,05 m; Weitsprung: 1. Mike Powell (USA) 8,20 m