„Sie sprengen, um uns zu zerstören“

Die Zerstörung eines Hochhauses soll die sozialen Probleme der französischen Trabantenstadt Les Bosquets entschärfen / In dem Viertel leben vor allem Nord- und SchwarzafrikanerInnen  ■ Aus Montfermeil Bettina Kaps

Es dauert 2,7 Sekunden – so schnell sackt das elfstöckige Gebäude in sich zusammen. Wo einmal tausend Menschen gelebt haben, liegt nach einem dumpfen Knall nur noch ein Haufen Schutt. Hunderte von Menschen haben der Sprengung des Wohnblocks Rue Derain 2 bis 8 in Montfermeil vom Fußballstadion aus zugeschaut; jetzt machen sie ihrer Spannung mit Pfeifen, Klatschen und Johlen Luft. Ein paar Jugendliche steigen in ihre alten Autos und rasen bei lauter Rap-Musik durch die Siedlung Les Bosquets, in der soeben – chirurgisch genau bemessen – 1.300 Sprengsätze explodiert sind.

Derweil lädt Bürgermeister Pierre Bernard im Reit- und Tennisclub zum Champagnerumtrunk – aus der angrenzenden Siedlung ist niemand dabei. Für den parteilosen rechten Politiker ist dies ein außergewöhnlicher Tag: Jahrelang hat er auf die Sprengung hingearbeitet. Denn Bernard ist überzeugt, daß nur Dynamit die sozialen Probleme lindern kann. „Wir sind hier in einem Ausländerghetto“, sagt er. „Wir müssen dafür sorgen, daß das Viertel weniger dicht besiedelt ist. Deshalb ist die Zerstörung notwendig.“ Montfermeil ist ein kleinbürgerliches Städtchen im Osten von Paris, das im übrigen Frankreich nur durch die unruhige Trabantenstadt Les Bosquets bekannt ist. Das wurmt den Bürgermeister. Er führt Besucher lieber in „das echte Montfermeil“ mit der nett restaurierten Windmühle und dem kleinen Schloß. Wenn er von „der unglücklichen Siedlung“ spricht, dann entsteht hingegen das Bild eines wuchernden Geschwürs, das nun einmal operativ entfernt werden muß. „Die Wohnungen sind völlig überbelegt. Oft leben zwei oder drei Familien darin, das führt zu Promiskuität und Kriminalität“, sagt Bernard.

Nach der Sprengung des „bÛtiment 2“ – des „Gebäudes Nummer zwei“ – besteht das Viertel noch aus sechs identischen Wohntürmen mit je elf Etagen und 13 kleineren Blöcken. Hier wohnen 9.000 Menschen, das ist ein gutes Drittel der Einwohner von Montfermeil. Sie drängen sich auf nur drei Prozent des Gemeindegebietes. Schon von weitem ragt die Siedlung, die nach einem angrenzenden Wäldchen benannt ist, wie ein karger Fremdkörper aus den Gartenhäusern empor, in denen die übrigen 17.000 Einwohner von Montfermeil leben.

Fast alle BewohnerInnen von Les Bosquets – nämlich 90 Prozent – sind Ausländer, sie stammen überwiegend aus nord- und schwarzafrikanischen Ländern. Freiwillig sind sie gewiß nicht in diese staubige Siedlung gezogen. Denn wer heute in Les Bosquets wohnt, ist in einer Enklave gestrandet, in der es keine Arbeit, kein Zentrum, kein städtisches Leben und keine Verkehrsanbindung gibt. Für die 20 Kilometer nach Paris braucht man mit Bus und Bahn mindestens anderthalb Stunden. „Die Blocks taugen nur als Durchgangsstationen. In unserer Produktionsgesellschaft werden selbst Wohnungen zu Konsumgütern, die nach 30 Jahren verdorben sind“, meint Philippe Darteil vom gemeinnützigen Verein PACT (Propaganda und Akion gegen Elendsquartiere“), der die Räumung des gesprengten Gebäudes organisiert hat. „Eine Stadt, ein Viertel kann nicht im Hauruck- Verfahren entstehen.“ Les Bosquets war in den 60er Jahren im Schnellverfahren hochgezogen und als „Residenz“ an mittelständische Franzosen, darunter viele Algerienheimkehrer, verkauft worden. Der ursprünglich versprochene Autobahnanschluß wurde nie realisiert. Schon bald begannen die große Rotation und der Verfall: Notwendige Arbeiten blieben aus, weil die Eigentümerversammlung bei über hundert Stimmberechtigten beschlußunfähig war. Wer konnte, verbesserte sich. Es zog nach, wer keine Alternative hatte: Schlechtverdienende und somit auch viele Ausländer – alles Menschen, die eigentlich Sozialwohnungen erhalten müßten. Für sie ist die Siedlung bis heute noch das kleinste Übel: „Hier können sie mit vereinten Anstrengungen eine Wohnung kaufen und dann zu mehreren Familien auf engstem Raum zusammenleben. Das ist für sie besser, als wenn sie ein winziges, teures Zimmer in Paris mieten“, sagt Philippe Darteil. Da es sich überwiegend um Privateigentum handelt, kann ihr Zuzug – anders als in Sozialwohnungen – nicht reguliert werden. Von den heutigen Bewohnern sind viele so sehr verschuldet, daß sie die Nebenkosten nicht mehr bezahlen können; Wasser und Strom werden ihnen daher immer wieder abgestellt.

In Les Bosquets und rund hundert ähnlichen „banlieues“ tickt eine Zeitbombe. Das sehen viele der BewohnerInnen auch so. Ahmed ist ein „beur“, ein Einwandererkind, und in der cité des Bosquets aufgewachsen. Der 22jährige besitzt einen französischen und einen algerischen Paß. „Da laufen zwei Kinder über den Parkplatz“, sagt er und deutet auf zwei schwarze Jungen, die kaum vier Jahre alt sein dürften. „Dort an der Ecke hocken drei auf dem Randstein, und an dem Baum daneben spielen noch mal zwei – das sind schon sieben Kleinkinder, die auf der Straße herumhängen. Was werden die wohl machen, wenn sie ein paar Jahre älter sind? Klauen oder randalieren, was sonst.“

Ahmed weiß, wovon er spricht. Er hat sich selbst jahrelang in den Straßen von Montfermeil herumgetrieben, dabei ab und zu eine Fensterscheibe zerschmissen, Autoreifen zerstochen, Aufzüge demoliert oder gestohlen – aus Langeweile, Trotz oder Bequemlichkeit. „Ich gehe doch nicht zu Fuß nach Hause, wenn ich nachts in Paris aus der Disco komme“, sagt er. „Ist doch klar, daß ich da ein Auto klaue.“ Jeder zweite in der Siedlung ist unter zwanzig. Mit den Kindern wächst der Frust und somit das Gewaltpotential heran. Wo Arbeitslosigkeit die Norm ist, haben bereits Jugendliche das Gefühl, sie seien von der Gesellschaft aufgegeben worden.

Mouss ist in einem der großen Wohnblocks aufgewachsen. Vor vier Jahren hat er die Schule verlassen, seither sucht er einen Job. „In dieser Gegend gibt es für einen wie mich keine Arbeit“, sagt er. „Wenn wir uns bewerben und die Leute merken, daß wir aus Les Bosquets kommen, dann geht gar nichts. Die haben Angst vor unseren Köpfen, vor unseren Namen, obwohl sie uns gar nicht kennen. Die versuchen es mit uns erst gar nicht.“ Obwohl er die Herkunft aus einem solchen Viertel als Stigma empfindet, betrachtet Mouss die freudlose Siedlung als sein Zuhause. Und auch sein Freund Ibrahim hängt an der „Zone“, wie er sagt, und wollte um nichts in der Welt in die umliegende Kleinstadt mit ihrer spießigen „Maiglöckchenstraße“ und den blühenden Rosengärten übersiedeln. Die banlieue gibt vielen beurs eine Identität. Die Sprengung empfindet Ibrahim daher als Angriff auf seine Person: „Sie sprengen das Gebäude nur, um uns zu zerstören“, sagt er. „Sonst hätten sie es doch renovieren können! Doch anstatt die Dinge hier zu verbessern, demolieren sie. Um die Gegend zu reinigen. Sie nennen das wirklich Reinigung!“ An die Stelle des riesigen Wohnturms soll jetzt ein Freizeitzentrum gesetzt werden. Ibrahim und Mouss glauben nicht daran. Sie wurden schon zu oft mit leeren Versprechungen abgespeist.

Der Stadtplaner Frédéric Winter bestätigt die Gefühle der Jugendlichen: „Die Zerstörung richtet sich mehr gegen die Bewohner der Türme als gegen die Gebäude selbst.“ Deshalb und auch wegen des großen Mangels an billigem Wohnraum war er lange Zeit strikt gegen diese Methode. „Die Sprengung ist immer Eingeständnis eines völligen Scheiterns“, sagt er. Inzwischen hält der Urbanist dieses Vorgehen in manchen Fällen für unvermeidbar: „Nicht, weil der Zustand der Gebäude irreparabel wäre.“ Der Kauf der Wohnungen, die Umquartierung der Bewohner und die Sprengung selbst kosten alles in allem 40 Millionen Francs (12 Millionen Mark). Mit dieser Summe könnte das Gebäude auch gründlich renoviert werden. Doch manchmal, so meint der Architekt heute, müßten einfach Zeichen gesetzt werden: „Bestimmte Türme haben einen derart schlechten Ruf, daß sie beseitigt werden müssen. Sonst glauben die Bewohner des Viertels nicht, daß sich bei ihnen tatsächlich etwas ändern soll“, sagt Winter, der im sozialen Wohnungsbau tätig ist. Was die Verbesserung der Siedlungen angehe, so wisse eigentlich niemand, was zu tun sei. „Viele dieser Viertel haben schließlich lange Zeit funktioniert“, sagt er. Sie liefen erst aus dem Ruder, als die Bessergestellten wegzogen und sich hier die ärmsten Bevölkerungsschichten sammelten. „Offenbar braucht jede Gesellschaft einen Ort, der völlig verrufen ist. Früher waren das die Stadtzentren. Dann gab es einen kulturellen Umschwung, der die Innenstädte wieder attraktiv machte. So etwas müssen wir jetzt in den banlieues erreichen: Es muß Menschen geben, die diese Viertel schätzen.“

Für eine langwierige Stadtpolitik kann sich Bürgermeister Bernard jedoch nicht erwärmen. Er setzt ganz auf die Politik der Zerstörung: „Wir wollen noch vier weitere Hochhäuser beseitigen“, sagt er mit frohem Lachen. Nicht nur er, auch die BewohnerInnen fänden das ganz „großartig“, beteuert er über die Köpfe der Betroffenen hinweg: „Die haben lange auf diesen Tag gewartet.“ Und mit jeder Sprengung, bestätigt der Bürgermeister zufrieden, wird er rund tausend Ausländer los.

Der zweite Wohnblock von Les Bosquets soll spätestens in vier Jahren implodieren. In der Siedlung Les Minguettes bei Lyon sollen noch fünf Türme zerstört werden. In Mantes-la-Jolie, Marseille und Lille haben die Sprengmeister ihre Arbeit bereits verrichtet. Dennoch sind auch diese Orte Zonen für Benachteiligte geblieben, in denen vor allem die Jugendlichen keine Jobs finden. Die Sprengung einiger Betonblöcke kann die sozialen Probleme in den Vorstädten nicht lösen.